Liebe Forumsmitglieder,
mir ist zwar die Alkoholabhängigkeit meiner Mutter und auch einige Folgen für mich seit langem bewusst – doch es fällt mir sehr schwer, mich hier anzumelden und von mir zu schreiben, auch wenn ich nun bereits einige Zeit intensiv und mit grossem Gewinn bei Euch mitlese.
Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten bisher nie systematisch mit der Alkoholabhängigkeit meiner Mutter in Zusammenhang gebracht. Auch in einer langjährigen Psychoanalyse war der Alkoholabusus meiner Mutter kein eigenes Thema. Ich habe mich dort auf mich konzentriert und das war auch sehr hilfreich. Die Analyse hat mir einen weiten inneren Raum eröffnet, in dem ich gelernt habe, nicht alles bewerten und rechtfertigen zu müssen. Dies hat mir auch einen neuen Umgang mit zwei chronischen Schmerzerkrankungen eröffnet, die seit früher Kindheit bestehen. Darauf bin ich stolz, denn so lange konnte ich nicht gut für mein gesundheitliches Wohl sorgen und noch immer gerät die Selbstfürsorge zwischendurch ins Stocken.
Und nun nach all den Jahren ist jetzt alles wieder da (bin nun über 50): die alten Panikattacken, die Übelkeit, das Gefühlschaos, die Verzweiflung... Nach vielen Jahren des Kontaktabbruchs, den ich wegen ihrer permanenten Entwertungen und Gehässigkeiten zunächst nur auf persönlicher Ebene, dann auch telefonisch strikt vollzogen hatte, bin ich nun mit meiner nun pflegebedürftigen Mutter konfrontiert. Nach dem Tod ihres Lebenspartners habe ich die Organisation der Pflege meiner Mutter übernommen.
Bereits vor einigen Monaten, als ihr Partner für eine Krebs-OP im Krankenhaus war, hatte sie mich um Hilfe gebeten, da sie sich nicht mehr selbständig versorgen kann.
Der zweiwöchige Aufenthalt bei ihr hat bei mir zu einer Retraumatisierung geführt. Da war zunächst der Schock über ihren körperlichen und geistigen Zustand. Zudem war alles so vertraut, wenn auch nun durch die fortgeschrittene Alkoholkrankheit extrem überspitzt. All die alten Muster aus meiner Kindheit: die Bosheiten, die Manipulationsversuche, das Absprechen meiner Wahrnehmung, der urplötzliche Kontrollverlust, ihr Geschrei und sogar die Androhung körperlicher Gewalt waren wieder da. Und all das bei einer alten und gebrechlichen Frau (sie wird bald 80), die von ihrer Krankheit so schlimm gezeichnet ist. Neben dem Alkoholabusus hat sie MS, wobei sie alle Probleme auf die MS schiebt, die jedoch laut Aussage des Neurologen sehr langsam fortschreitet (meine Mutter kann sich noch selbständig im Haus bewegen). Vieles, was mich sehr besorgt – der Juckreiz der Haut, die Schluckbeschwerden und Würgereflexe, die blauen Flecken, das Zittern beim Teemachen, die Probleme mit dem Gleichgewicht, die Stürze führe ich auf den Alkoholabusus zurück, meine Mutter ist überzeugt, alles sei der MS geschuldet.
Ich wollte bereits zu Jahresbeginn eine stationäre Pflege für sie organisieren, weil klar war, dass ihr Partner die Pflege nicht mehr übernehmen konnte. Sie und auch ihr wohl Co-abhängiger Partner haben das jedoch vehement abgelehnt und sich die Monate, die ihm blieben, mit minimaler Hilfe der Tochter des Partners meiner Mutter durchgeschlagen.
Als ihr Partner letzten Monat gestorben ist, war ich nochmals für eine Woche da und dann nochmals für eine Woche nach der Beerdigung. Diesmal hat meine Mutter meine Hilfe angenommen. Doch es kam wieder zu Ausfällen, wenn auch weniger massiv, wohl auch weil ich mich bei diesen beiden Aufenthalten besser distanzieren konnte.
Ich habe mir sofort umfassend Hilfe geholt, sowohl vor Ort bei meiner Mutter (Sozialdienst, Gerontopsychiatrischer Dienst, Ärzte), als auch für mich (Krisendienst, ich hoffe auf einen Therapieplatz aufgrund der nun im Raum stehenden kPTBS) Ohne dieses umfassende Netz und die Beratungen und Notgespräche hätte ich die Organisation der Versorgung meiner Mutter nicht hinbekommen, obwohl mein wunderbarer Mann mich begleitet und liebevoll und tatkräftig unterstützt hat.
Einerseits ist es gut, all das nun als Erwachsene deutlich und klar vor Augen zu haben. Und vor allem, dass ich jetzt nicht allein mit der Situation bin, mir Hilfe organisiert habe und Zeugen für all diese Vorkommnisse habe, hilft mir aus dem zwischendurch auftauchenden Gefühl der Hilflosigkeit. Dennoch tauchen auch jetzt immer wieder Panikattacken auf, dazu kommen tiefe Trauer und Schmerz.
Es ist schwer.
Entschuldigt diesen langen Text.
Liebe Grüße
Siri