Siri - Ein EKA sein – neu und ungewohnt

  • Liebe Forumsmitglieder,

    mir ist zwar die Alkoholabhängigkeit meiner Mutter und auch einige Folgen für mich seit langem bewusst – doch es fällt mir sehr schwer, mich hier anzumelden und von mir zu schreiben, auch wenn ich nun bereits einige Zeit intensiv und mit grossem Gewinn bei Euch mitlese.

    Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten bisher nie systematisch mit der Alkoholabhängigkeit meiner Mutter in Zusammenhang gebracht. Auch in einer langjährigen Psychoanalyse war der Alkoholabusus meiner Mutter kein eigenes Thema. Ich habe mich dort auf mich konzentriert und das war auch sehr hilfreich. Die Analyse hat mir einen weiten inneren Raum eröffnet, in dem ich gelernt habe, nicht alles bewerten und rechtfertigen zu müssen. Dies hat mir auch einen neuen Umgang mit zwei chronischen Schmerzerkrankungen eröffnet, die seit früher Kindheit bestehen. Darauf bin ich stolz, denn so lange konnte ich nicht gut für mein gesundheitliches Wohl sorgen und noch immer gerät die Selbstfürsorge zwischendurch ins Stocken.

    Und nun nach all den Jahren ist jetzt alles wieder da (bin nun über 50): die alten Panikattacken, die Übelkeit, das Gefühlschaos, die Verzweiflung... Nach vielen Jahren des Kontaktabbruchs, den ich wegen ihrer permanenten Entwertungen und Gehässigkeiten zunächst nur auf persönlicher Ebene, dann auch telefonisch strikt vollzogen hatte, bin ich nun mit meiner nun pflegebedürftigen Mutter konfrontiert. Nach dem Tod ihres Lebenspartners habe ich die Organisation der Pflege meiner Mutter übernommen.

    Bereits vor einigen Monaten, als ihr Partner für eine Krebs-OP im Krankenhaus war, hatte sie mich um Hilfe gebeten, da sie sich nicht mehr selbständig versorgen kann.

    Der zweiwöchige Aufenthalt bei ihr hat bei mir zu einer Retraumatisierung geführt. Da war zunächst der Schock über ihren körperlichen und geistigen Zustand. Zudem war alles so vertraut, wenn auch nun durch die fortgeschrittene Alkoholkrankheit extrem überspitzt. All die alten Muster aus meiner Kindheit: die Bosheiten, die Manipulationsversuche, das Absprechen meiner Wahrnehmung, der urplötzliche Kontrollverlust, ihr Geschrei und sogar die Androhung körperlicher Gewalt waren wieder da. Und all das bei einer alten und gebrechlichen Frau (sie wird bald 80), die von ihrer Krankheit so schlimm gezeichnet ist. Neben dem Alkoholabusus hat sie MS, wobei sie alle Probleme auf die MS schiebt, die jedoch laut Aussage des Neurologen sehr langsam fortschreitet (meine Mutter kann sich noch selbständig im Haus bewegen). Vieles, was mich sehr besorgt – der Juckreiz der Haut, die Schluckbeschwerden und Würgereflexe, die blauen Flecken, das Zittern beim Teemachen, die Probleme mit dem Gleichgewicht, die Stürze führe ich auf den Alkoholabusus zurück, meine Mutter ist überzeugt, alles sei der MS geschuldet.

    Ich wollte bereits zu Jahresbeginn eine stationäre Pflege für sie organisieren, weil klar war, dass ihr Partner die Pflege nicht mehr übernehmen konnte. Sie und auch ihr wohl Co-abhängiger Partner haben das jedoch vehement abgelehnt und sich die Monate, die ihm blieben, mit minimaler Hilfe der Tochter des Partners meiner Mutter durchgeschlagen.

    Als ihr Partner letzten Monat gestorben ist, war ich nochmals für eine Woche da und dann nochmals für eine Woche nach der Beerdigung. Diesmal hat meine Mutter meine Hilfe angenommen. Doch es kam wieder zu Ausfällen, wenn auch weniger massiv, wohl auch weil ich mich bei diesen beiden Aufenthalten besser distanzieren konnte.

    Ich habe mir sofort umfassend Hilfe geholt, sowohl vor Ort bei meiner Mutter (Sozialdienst, Gerontopsychiatrischer Dienst, Ärzte), als auch für mich (Krisendienst, ich hoffe auf einen Therapieplatz aufgrund der nun im Raum stehenden kPTBS) Ohne dieses umfassende Netz und die Beratungen und Notgespräche hätte ich die Organisation der Versorgung meiner Mutter nicht hinbekommen, obwohl mein wunderbarer Mann mich begleitet und liebevoll und tatkräftig unterstützt hat.

    Einerseits ist es gut, all das nun als Erwachsene deutlich und klar vor Augen zu haben. Und vor allem, dass ich jetzt nicht allein mit der Situation bin, mir Hilfe organisiert habe und Zeugen für all diese Vorkommnisse habe, hilft mir aus dem zwischendurch auftauchenden Gefühl der Hilflosigkeit. Dennoch tauchen auch jetzt immer wieder Panikattacken auf, dazu kommen tiefe Trauer und Schmerz.

    Es ist schwer.

    Entschuldigt diesen langen Text.


    Liebe Grüße

    Siri

  • Liebe Siri, aus ganzem Herzen willkommen!

    Wie schön, dass du hier her gefunden und dich nun sogar geöffnet hast.

    Was für eine schwierige Situation. Es tut mir sehr leid, was da alles auf dich eingeschmettert ist.

    Mir scheint es manchmal sehr typisch zu sein, die eigene EKA Geschichte unter vielfältigen anderen Problemen zu vergraben. Ich selbst bin durch ganz andere Fragen und Sorgen hier gelandet, obwohl ich aus einer Familie mit vielfältigen „Suchtkarrieren“ stamme, habe ich das Ausmaß dahinter erst hier und bis heute nicht in Gänze erfasst.

    Seit Jahren ruht der Kontakt zu meinen Eltern und ich hoffe so sehr, stark genug zu sein, ihn nie wieder auf zu nehmen. Deine Erzählungen gehen mir unter die Haut und eine Stimme in mir ruft: „Lauf Siri, so lange du noch kannst“ Aber natürlich spüre ich auch dein Dilemma zwischen ganz altem Pflichtbewusstsein und der vielleicht nie endenden Sehnsucht nach einem friedlichen Weg oder Abschluss mit deiner Mutter.

    Schön das du hier bist!

    Viele Grüße, Lea

  • Liebe siri,

    auch von mir:

    Fühle dich von Herzen willkommen !

    Ich finde es sehr groß von dir, dass du dir alles an Hilfe holst, die du kriegen kannst.

    Auch toll, dass es dir nach diesen Erlebnissen gelungen ist, eine gute Beziehung zu haben, einen starken, liebevollen Mann, der dich (unter)stützt.

    Ich bin in einem ähnlichen Alter wie du und trotz ( oder wegen ? ) meiner eigenen diversen psychischen Störungen und ich auch beruflich täglich damit zu tun habe, ist mir erst jetzt, seit ich hier im Forum bin, dieser „EKA-Status“ bewusst geworden.

    Ich freue mich auf den Austausch mit dir,

    liebe Grüße,

    M. ( EKA, Alkoholikerin, 6 Jahre trocken )

    P.S.: Schön, dass du viel geschrieben hast ! Gut für uns -und für dich :)

  • Vielen Dank, Lea, für Dein herzliches Willkommen und Deine verständnisvollen Worte. Sie helfen mir sehr.

    Beim Sozialdienst in der Stadt bei meiner Mutter, wo man solch eine massive Entwertung Anfang des Jahres live mitbekommen hat, hat man mir genau dies auch gesagt: Laufen Sie!

    Und auch die Hausärztin meiner Mutter meinte, ich müsse meiner Mutter den Rücken kehren, um meine Seele zu retten.

    Der Krisendienst hier bei mir sieht es differenzierter: Die Person meinte, dass ich genau auf mich achten müsse, es aber auch richtig sein könnte, die Problematik in ihrem Ausmass aus erwachsener Sicht jetzt anzusehen. Dieses Ausmass war mir selbst bisher nicht klar und auch die Massivität der Gewalt, die mir als Kind widerfahren ist und die ja immer beiseite gewischt wurde, bestätigt sich ja jetzt. Ebenso viele andere Falschdarstellungen und Lügen meiner Mutter, die jetzt völlig klar als solche zu Tage treten. So schlimm alles ist: dies in solch einer Klarheit zu sehen, ist für mich heilsam. Manches hat auch mit meiner Biographie zu tun, die immer falsch dargestellt wurde, und wo jetzt durch die Gespräche mit ihrer Schwester einiges richtig gestellt wurde. Das ist wichtig, denn es klärt so vieles bei mir emotional: meine Gefühle waren und sind richtig! Zudem hilft es mir zu lernen, zwischen mir und meiner Mutter klar eine Grenze zu ziehen: Wo die Trennung zwischen uns ist, war nie klar und genau dies wurde mir jetzt wieder bewusst: diese ungute Symbiose, die von ihr immer unterhalten wurde und die ich nun endlich ganz auflösen möchte. Trotz des jahrelangen Kontaktabbruchs war mir dies nämlich nicht gelungen. Dieser hat aber dabei geholfen, das Problem nun genauer zu spüren und zu bemerken, wo Grenzübertretungen sind – nicht nur von Seiten meiner Mutter, auch ich übertrete leider hier selbst immer wieder gesunde Grenzen, wenn ich im Kümmer- und Verantwortungsprogramm bin. Und das möchte ich ändern, denn es behindert mich auch sonst in meinem Leben mit anderen.

    Mir selbst ist klar, dass ich die Besuche bei meiner Mutter auf ein absolutes Minimum beschränken muss. Der nächste steht bald wegen eines Notartermins an (Vollmacht, meine Mutter kann ihre Geschäfte nicht mehr selbst erledigen), dann irgendwann einer um den Pflegegrad neu zu bestimmen. Ich werde dann jeweils nur zwei Tage dort sein, leider mit zwei Übernachtungen wegen der Entfernung.

    Die Hausärztin übernimmt die medizinische Verantwortung und wird die nötigen Schritte unternehmen, wie sie sagt. Wenn meine Mutter ihre Termine bei ihr nicht wahrnimmt, wird sie nach einiger Zeit erneut das Betreuungsgericht einschalten. Dort kennt man ihren Fall bereits, denn ich hatte mich Anfang des Jahres bereits um eine gesetzliche Betreuung bemüht, was meine Mutter und der Partner abgelehnt haben, obwohl der Partner nicht in der Lage war, die Pflege meiner Mutter auch wahrzunehmen. Die beiden haben die Demenz meiner Mutter beim Hausbesuch überspielt, die allerdings bereits fortgeschritten ist.

    Es ist eine große Erleichterung für mich, dass die Ärztin die medizinische Seite übernimmt und will, dass ich mich da heraushalte: Ich hatte bei der Hausärztin zunächst nur einen Besprechungstermin für mich gemacht, um ihr die Situation zu erklären, und dann einen für meine Mutter. Bei diesem Termin war ich anders als beim Neurologen dann auch nicht im Sprechzimmer dabei. Das hat sich für mich besser angefühlt als beim Neurologen, allerdings hat auch dieser damals nonverbal (indem er mich nie, meine Mutter immer angeschaut hat) sehr deutlich gemacht, dass alles Sache meiner Mutter ist. Auch das hatte mir sehr gut getan.

    Ich werde meine Mutter also nicht mehr bei ihren Arztbesuchen begleiten und mit der Hausärztin auch keine Termine mehr für sie machen. Ich habe verstanden: meine Mutter muss das selbst tun und sie weiss ja nun, wen sie anrufen muss, um zum Arzt begleitet zu werden. Sie war wohl seit Jahren nicht bei ihren Ärzten, ihr Partner hätte sie hingefahren, doch meine Mutter wollte wohl nicht dorthin gehen. Bei meinen Besuchen hatte ich die Termine dort gemacht, weil ich dies unmöglich fand. Jetzt weiss ich, dass es typisch für Alkoholiker ist, sich so zu verhalten.

    Dennoch war der Besuch bei der Hausärztin auch für mich wichtig, denn ich kann diese Verantwortung ja nicht tragen. Es ist für mich wichtig zu wissen, dass es vor Ort bei meiner Mutter ein minimales Netz gibt, so dass sie nicht in ihrer Wohnung völlig verwahrlost. Das ist mit meinem Vater passiert, wie ich vor einigen Jahren erfahren habe, nachdem er gestorben war. Es war schrecklich, damit konfrontiert zu sein, auch wenn ich ihn kaum gekannt habe (das hatte in meiner Kindheit meine Mutter sabotiert und es hat sich später keine tragfähige Beziehung mehr entwickelt). Das darf nicht nochmals passieren.

    Ich bin froh, dass ich viele 100 km entfernt wohne. Dennoch merke ich, dass ich sehr aufpassen muss, nicht in einen Strudel zu geraten, in dem ich völlig verschwinde. Zugleich ist es so, dass meine eigene emotionale und psychische Situation in den vergangenen Jahren nicht gut war und ich mich immer weiter zurückgezogen habe. Ich sehe jetzt, dass dies mit dem Alkoholismus meiner Mutter und den damit zusammenhängenden Kindheitserfahrungen zu tun hat. Ich möchte diese Problematik nun offensiv in Angriff nehmen und hoffe, bald einen Therapieplatz zu ergattern. Auch hier in diesem Forum habe ich mich angemeldet, um aus dieser Lähmung herauszufinden, die ich seit langem bei allem, was mich betrifft, verspüre und die mich in meinem Leben sehr behindert.

    Liebe Grüße

    Siri

    Einmal editiert, zuletzt von Siri (20. August 2023 um 10:45) aus folgendem Grund: Schreibfehler

  • Hallo Siri,

    herzlich willkommen bei uns, in unserer Onlineselbsthilfegruppe.

    Es ist gut, das du dir Hilfe suchst, das finde ich sehr wichtig für dich.

    Wenn deine Mutter eine Betreuung benötigen sollte, würde ich mir sehr gut überlegen, ob du das wirklich leisten kannst.

    Das hat nichts mit drücken vor Verantwortung zu tun.

    Magst du dich hier austauschen? Ich lasse dir mal den Link zur Bewerbung für den offenen Bereich da.

    Einfach draufklicken und kurz ein paar Worte schreiben.

    https://alkoholiker-forum.de/bewerben/


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Liebe Mercedes,

    vielen Dank auch Dir für Deine lieben und ermutigenden Worte.

    Auch Dein Hinweis, dass ich hier auch viel schreiben darf, tut gut. Meine Antwort auf Leas Beitrag ist ja nun sogar noch länger geworden. Ich hoffe, dass es dennoch nachvollziehbar bleibt. Mir tut es so gut, das alles aufzuschreiben und auf Menschen zu treffen, die sich mit der Problematik auskennen, sie nachvollziehen können.

    Dass ich sofort alles, was es an Hilfe gibt, mobilisieren konnte, hat mich auch überrascht. Ich glaube es war so, weil es zunächst für meine Mutter gedacht war. Jetzt merke ich, dass es vor allem für mich sein muss. Auch die Ermahnungen, die es hier im Forum ab und an gibt, dass es um einen selbst geht, es ein Selbsthilfeforum ist, tun mir gut. Es erinnert daran, beim Schreiben bei der eigenen Perspektve zu bleiben. Das ist gar nicht so leicht!

    Liebe Grüße

    Siri

    Einmal editiert, zuletzt von Siri (20. August 2023 um 10:46) aus folgendem Grund: Schreibfehler

  • Liebe Siri,

    herzlich willkommen in unserer Online-Selbsthilfegruppe.

    https://alkoholiker-forum.de/bewerben/

    Das ist der Link, mit dem du dich für den Austausch hier bewerben kannst. Klick einfach drauf, schreib kurz was dazu und dann geht es los. Den Thema ist dann im Bereich für EKA, du kannst dich aber überall austauschen.

    Nur bitte die ersten 4 Wochen nicht im Vorstellungsbereich, komm in den anderen Bereichen erstmal in Ruhe an.

    Liebe Grüße Aurora

    Willst du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten.


    chinesische Weisheit

  • hallo Siri,

    du bist jetzt für den Austausch im offenen Bereich freigeschaltet und kannst dort schreiben.

    Bitte schreibe aber die erst 4 Wochen nicht bei den neuen Usern im Vorstellungsbereich.

    Ich wünsche dir einen guten Austausch

    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Liebe Morgenrot,

    ganz herzlichen Dank für das Willkommen und die Aufnahme ins Forum. Ich muss mich hier erst noch orientieren und werde weiterhin viel mitlesen. Ich bin froh, mich nun auch austauschen zu können.

    Liebe Grüße

    Siri

  • Liebe Morgenrot,

    ich weiss jetzt (!) immer mehr, dass es nicht meine Verantwortung ist und ich halte mir die Übergabe der weiteren Organisation der Pflege und Erledigung der sonstigen Geschäfte meiner Mutter an einen gesetzlichen Betreuer offen. Das Betreuungsgericht ist über die jetzige Situation informiert.

    Dennoch bin ich im Moment trotz des Schmerzes und der Trauer, die mich immer wieder überfallen, froh, dass ich etwas für sie tun kann, die ambulante Pflege organisiert, die Hausärztin informiert habe, den Notrufknopf, das Essen auf Rädern, die Einschaltung des gerontopsychiatrischen Dienstes ... eine Art Netz für sie.

    Auch wenn mir in den letzten Wochen in den Krisengesprächen hier bei mir vor Ort klar geworden ist, dass meine Verzweiflung und Panik, sie sonst im Stich zu lassen, tatsächlich vor allem etwas damit zu tun haben, dass ich als Kind von ihr im Stich und völlig alleingelassen wurde, ist mir das wichtig. Ich tue es auch für mich, weiss zugleich auch, dass ich es nur machen kann, wenn mich der Kontakt zu ihr nicht mehr jedesmal aus der Bahn wirft, selbst wenn es wohl jedes Mal traurig sein wird. Es fühlt sich an, wie ein schmerzhafter fortgesetzter Abschied. Nicht nur von ihr, sondern von meinen Hoffnungen und Sehnsüchten nach (m)einer Mutter.

    Ich bin froh, dass sie sich nicht bei mir telefonisch meldet und ich selber beschränke meine telefonischen Kontakte auf ein Minimum und rein sachliche Themen.

    Wenn ich all das jetzt nicht tun würde, habe ich Angst, dass es so wie bei meinem Vater würde: jahrelange Pein und Verzweiflung, dass er auf diese Weise gestorben ist. Bei ihm gab es keine Hinweise auf Alkoholismus in der Wohnung, aber ich weiss seit meiner Studienzeit als ich den Kontakt zu ihm gesucht hatte, dass er psychisch sehr zu kämpfen hatte. Mir ist ebenso klar, dass ich ihm nicht helfen hätte können. Das hätte mich überfordert. Nach dem Tod meiner Oma (seiner Mutter) haben wir uns vor sehr vielen Jahren das letzte Mal gesehen. Mein Vater hat mir damals zum Abschied einen vorsichtigen Kuss auf die Wange gedrückt und hat mich gehen lassen. Dafür bin ich ihm dankbar.

    Ich weiss, dass ich auf einen solchen Abschied bei meiner Mutter nicht zu hoffen brauche. Das wird nicht so sein. Aber sie verdient die Chance, in ein Pflegeheim zu kommen, wenn sie denn will bzw. dies von den Fachpersonen für nötig erachtet wird. Diese Chance will ich ihr geben, ohne es erzwingen zu können. Die Ärztin meint, dass sie hierzu ersteinmal noch tiefer fallen müsse. Ich hoffe, dass dann das Netz greift, wenn dies passiert. Denn ich möchte dann nicht vor Ort sein. ;(


    Liebe Grüße

    Siri

  • Liebe Siri,

    ich finde, du bist auf einem guten Weg, du kümmerst Dich um dich, passt auf dich auf und du hilfst deiner Mutter so, wie es dir möglich ist. Und ja, du darfst lachen, tanzen, weinen, Spaß haben am Leben, es ist deine Verantwortung, dein Leben. Deine Mutter hat es nicht geschafft, ihre Verantwortung zu übernehmen und dir ein ordentliches Paket mit auf den Weg gegeben. Das ist nicht deine Schuld, aber ich denke, das weißt du. Ich bin kein EKA und kann leider wenig Schlaues dazu sagen, ich möchte dich aber auf deinem Weg unterstützen und ich finde es gut, wie du mit dir und deiner Mutter umgehst. Ich wünsche dir dafür viel Kraft und Geduld.

    sonnige Grüße

    Lütte

    "In dem Moment, wo Du eine Entscheidung triffst, formt sich dein Schicksal"

  • Liebe Lütte,

    danke Dir sehr für Deine unterstützenden Worte. Es tut so gut, auf Verständnis zu treffen und hier im Forum die Erfahrungen anderer lesen zu können, die meinen in so vielem ähneln.

    Liebe Grüße

    Siri

  • Hallo zusammen,

    meine Anspannung ist enorm, denn morgen werde ich wieder zu meiner Mutter fahren, da wichtige Termine anstehen. Bereits gestern gab es einige Telefonate. Jemand vom Betreuungsbericht hat mich am Mittag angerufen und aus der Arbeit gerissen. Das funktioniert so nicht, der Anruf kam überraschend und ich merke, dass ich mit solchen Überraschungen überhaupt nicht gut zurecht komme. Das gestrige Telefonat mit meiner Mutter war dann zum Glück sachlich und kurz und ich konnte meine Distanz halten, obwohl sie leider völlig verzweifelt und von allem überfordert war. Die Putzfrau möchte wohl nicht mehr kommen und meine Mutter schafft es nicht, sich eine neue Hilfe zu suchen. Ich habe grosse Sorge davor, dass meine Mutter verwahrlost, habe mir aber fest vorgenommen, dort jetzt nicht anfangen zu putzen.

    Am heutigen Tag konnte ich mich dann überhaupt nicht auf meine Arbeit konzentrieren und mir war den ganzen Tag über übel. Bereits vor der Fahrt ein völlig verlorener Lebenstag. Ich hoffe, dass sich das bald ändert und ich auch im persönlichen Umgang vor Ort mehr Sicherheit finden kann. Sonst wird es nicht gehen mit der Vorsorgevollmacht. Bereits nach so einem Tag wie heute bin ich vollkommen erschöpft, obwohl ich ja rein gar nichts auf die Reihe bekommen habe.

    Nach diesem Termin gibt es erst einmal keine Anlässe mehr zu meiner Mutter zu fahren und ich hoffe, dass es mir gelingt, ihr auf gute Weise zu sagen, dass ich mich auf meine Arbeit konzentrieren muss und alles weitere von meinem Zuhause aus organisieren werde.

    Drückt mir die Daumen, dass der Aufenthalt nicht allzu kräftezehrend und mich ihr schlechter Zustand nicht erneut überwältigen wird.

    Traurige Grüße

    Siri

  • Ich denk an dich! Verblüffend, wie viel Energie einem die Situation rauben kann. Sehr interessant das von außen zu betrachten. Ich kenne das alles so gut - und bin wirklich erstaunt, dass es nicht mir allein so geht. Hab leider auch keinen Rat - aber ich finde Du klingst so bewusst, dass ich mir vorstellen kann, dass Du gut auf Dich aufpassen wirst! Ich wünsche Die die Stärke, das zu tun, was die Situation erfordert, um dich zu beschützen! Fühl dich umarmt!

  • Oh Siri, wie gut ich mich erinnere, an solche Anrufe, an die vielen Gefühle und daran, wie viel Kraft es zieht.

    Ich hab an dich gedacht und Daumen gedrückt, sofort schreiben konnte ich leider nicht.

    Hoffentlich hältst du dich einigermaßen und kommst so heile wie möglich durch diese Tage jetzt und auch durch die Zeit danach.

    Wir sind hier, Berichte gerne und wenn dir nicht danach ist, dann sind wir trotzdem da und denken an dich.

    Lea

  • Liebe Lütte, liebe Lanananana, liebe Lea,

    habt vielen Dank für Eure Worte, die so gut tun! Auch zu wissen, dass jemand an mich denkt, der nachvollziehen kann, wie es mir geht, tut gut.

    Mir gelingt es einigermaßen, die Angriffe meiner Mutter ins Leere laufen zu lassen und meinen Aufgaben hier nachzukommen. Aber ich bin nach nur 1,5 Tagen bei ihr trotzdem tot müde und sehr vergesslich und muss alles aufschreiben, um es zu strukturieren. Ich erkläre mir das durch die enorme Anspannung vor der Fahrt und gestern, dem Immer-auf-der-Hut-sein-müssen Modus, der noch aus meiner Kindheit ist und wieder angesprungen ist. Gesundheitlich ist das nicht gut für mich, es ist zu viel Aufruhr im Nervensystem. Wir werden deshalb morgen bereits früh und nicht erst am Nachmittag wieder nach Hause fahren. Je kürzer so ein Besuch ist, umso besser.

    Das wichtigste konnten wir erledigen. Medicproof war zu Begutachtung da und ich habe nun eine Generalvollmacht. Mal sehen, ob meine Mutter sie dann auch tatsächlich gewährt und nicht vernichtet, was sie wohl darf wie der Notar betont hat. Wenn sie das tut, greift das Betreuungsgericht. Dort muss die Vollmacht vorliegen, ansonsten wird wohl ein gesetzlicher Betreuer bestellt.

    Die Angriffe und subtilen Bosheiten kommen nun vor allem dann, wenn meine Mutter selbst merkt, dass sie etwas nicht mehr versteht oder sich selbst eingestehen muss, den Überblick verloren zu haben. Sie reagiert dann mit Aggression gegen mich. Manchmal schreit sie auch verzweifelt. Das war bereits in meiner Kindheit so. Es fühlt sich leider vertraut an. Aber jetzt merke ich ganz deutlich, dass es nichts mit mir zu tun hat, auch wenn sie das suggeriert. Es hilft mir, das immer mehr zu verinnerlichen und die Glaubensgrundsätze meiner Mutter nicht mehr auf mich zu beziehen. Tatsächlich tun die Bosheiten auch nicht mehr weh und verursachen keine komischen Gefühle mehr. Sie schafft es nicht mehr, mich zu verletzen und darüber bin ich gerade sehr erleichtert. Sie reagiert jetzt auch anders, stoppt ihre Angriffe, wenn sie merkt, dass es mich nicht trifft und meint dann, sie wolle keinen Streit. Ich sage dann eine Floskel, wie "na dann ist es ja gut", oder ähnliches – immer mit einer ruhigen aufmunternden Stimme, die ich mir bereits letztes Mal von der Pflegerin des Pflegedienstes abgeschaut habe.

    Meine Übelkeit, die vor und während der Reise enorm war, ist heute nun völlig weg. Mal sehen, wie sich das bei der Rückreise entwickelt. Ich habe seit meiner Kindheit mit häufiger Übelkeit und starken chronischen Schmerzproblematiken zu tun. Es hat lange gedauert, zu verstehen, dass das kein normaler Zustand ist. Zuvor habe ich es immer auf besonders stressige Phasen im Beruf bezogen oder davor als Lampenfieber vor Prüfungen etc. interpretiert.

    Sehr deutlich merke ich nun auch, wann meine Mutter Suchtdruck hat. Da sie die eiserne Regel hat, erst beim Abendessen zu trinken, ist es für sie schwer, wenn sich hier etwas verzögert. Ebenso, wenn die nötige Menge nicht unmittelbar greifbar ist und sie vor uns eine neue Flasche aufmachen muss. Vielleicht schämt sie sich ja dafür? Leider hat sie körperlich und geistig weiter sehr abgebaut. Es ist erschreckend und sehr traurig wie schnell das geht.

    Erschöpfte Grüße

    Siri

  • Liebe Forumsmitglieder,

    ich wollte hier einmal einen kleinen Zwischenstand geben. Seit Freitag bin ich nun wieder zu Hause.

    Mir geht es soweit gut. Nach der Reise war ich am Freitag Abend und Samstag erst einmal völlig erledigt, doch am Sonntag sind mein Mann und ich zum Wandern ins Grüne gefahren. :) Das tat unheimlich gut und ich bin froh, dass ich mir den Ausflug trotz allem und sogar ganz ohne schlechtes Gewissen erlaubt habe. Das ist neu für mich. Ich erkläre mir die Schwierigkeit mir selbst etwas zu gönnen damit, dass ich als Kind nie wusste, wie es war, wenn ich von irgendeiner Aktivität nach Hause kam. Meist fühlte es sich bedrohlich an und dieses Gefühl einer unbestimmten Bedrohung hat mich eigentlich mein ganzes bisheriges Leben lang begleitet, mal in mehr und mal in minder schwerer Form. Allerdings habe ich es bislang nicht auf meine Kindheitserfahrungen bezogen, sondern damit erklärt, dass zu Haus ja so viel Unerledigtes wartet, dass ich also eigentlich gar keine Zeit für solche Aktivitäten habe. Bei den Aufenthalten bei meiner Mutter wurde deutlich, dass sich das grummelige Gefühl vor allem nach freudvollen Aktivitäten meldet (Telefonat mit Freundin, Spaziergang/Cafebesuch mit meinem Mann). Auch nach Freude über schulische und später berufliche Erfolge beschlich es mich, wie ich mich nun erinnere. Als hätte ich etwas Verbotenes getan, weshalb ich mich auch nie über solche Erfolge freuen konnte. Kennt das jemand von den EKAs hier?

    Ich merke, dass ich mehr Energie habe und der Welt gegenüber aufgeschlossener, positiver bzw. irgendwie offener eingestellt bin als vor der Konfrontation mit der Lebenssituation meiner Mutter, auch wenn ich nach wie vor oft von Unsicherheit geplagt bin. Ich bemühe mich jetzt intensiv um einen Therapieplatz.

    Wenn ich an meine Mutter denke, macht mich das traurig, aber der Schmerz überwältigt mich nicht mehr. Ich versuche das Bild meiner Mutter wie sie in sich zusammengesunken, völlig teilnahmslos in der Küche oder vor dem Fernseher sitzt, durch Bilder des sehr freundlichen Personals des ambulanten Pflegedienstes zu vertreiben, der sich sehr professionell und empathisch um meine Mutter kümmert. Auf diese Weise kommt so etwas wie Leben zu meiner Mutter. Dafür bin ich sehr dankbar. Es hilft mir, dass die Sorgen nicht überhand nehmen.

    Liebe Grüße Siri

  • Kennt das jemand von den EKAs hier?

    Liebe Siri,

    ich melde mich mal als EKA eines alkoholabhängigen Vaters. Danke für deine Beschreibung, mir geht es exakt genauso und ich wäre von selbst nie drauf gekommen, was hinter diesem "miesen" Gefühl nach tollen Aktivitäten steht. Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen, wow! Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, mein Vater sieht sich immer in der Opferrolle, egal was los ist und hat es uns nie vergönnt, wenn wir zB mit unserer Mutter etwas Tolles unternommen haben. Wahrscheinlich wollte er somit sein schlechtes Gewissen aufgrund der Sauferei auf uns abwälzen. Er hat das uns Kinder und sie immer eiskalt spüren lassen. Zur Erklärung: Meine Eltern hatten nebenbei eine kleine Landwirtschaft, die meine Mama hauptberuflich betrieben hat, mein Papa ist bis zu seinem Rauswurf nebenbei arbeiten gegangen. Immer wenn meine Mama sich etwas Zeit freigeschaufelt hat, um mit uns Kindern etwas zu unternehmen, hat er auf einmal so getan als würde sie ihn alleine mit dem ganzen Betrieb zuhause im Stich lassen und der Arme müsse jetzt alles alleine stemmen - was aber tatsächlich nie der Fall war. Ich denke, daher rührt immer noch dieses falsche schlechte Gewissen, weil ich als Kind so geprägt wurde, gewisse Sachen nicht zu verdienen, oder nur erleben zu können unter der Prämisse, dass er sich dafür aufopfert. Ich hoffe, man versteht was ich meine. Teilweise ist es so schwer, derart abstruse Gegebenheiten nachvollziehbar zu beschreiben...

    Es ist einfach unglaublich, wie nachhaltig derartige Muster noch in einem arbeiten, obwohl man mittlerweile eine selbständige, erwachsene Person ist und im Grunde niemandem Rechenschaft schuldig ist, was man wann und wo unternimmt.

    Wollte dir hiermit nur kurz mitteilen: du bist nicht alleine mit deinen Empfindungen! Wünsche dir weiterhin viel Kraft und die Fähigkeit, die schönen Dinge des Lebens ohne mumigem Gefühl genießen zu können! LG, Madeleine

  • Liebe Madeleine,

    hab vielen Dank für Deine Zeilen. Es ist interessant, dass Du dieses Gefühl auch so gut kennst.

    Wie Dein Vater hat meine Mutter immer die Opfer betont, die sie für mich erbringen musste. Dabei hat sie sich selbst unglaublich heroisiert und als starke Alleinerziehende dargestellt, die ohne Hilfe zurecht kommt. Sie ist also nie in Selbstmitleid verfallen und achtet auch heute noch darauf, nicht als schwach dazustehen. Dies führt jetzt oft zu gefährlichen Situationen, wenn sie zB partout die Treppe selbst gehen will, statt den Treppenlift zu nehmen, und dann wieder einmal stürzt. Sie ist immer schon gerne Risiken eingegangen (zum Beispiel beim Autofahren) und hat sich dann über mich lustig gemacht, wenn mich dies in Angst versetzt hat.

    Wenn ich es recht bedenke, ging es auch nicht allein um die schönen Dinge, die mir madig gemacht wurden, sondern um jegliche Form von Autonomie, die ich mir durch eigene Aktivitäten erlaubt habe. Nach schönen Erlebnissen war das ungute Gefühl nur besonders krass. Meine Mutter war und ist sehr kontrollierend, weshalb ich ihr auch nichts Privates mehr von mir erzähle. Damit wurde die Beziehung zwar vollkommen unpersönlich, was ja eigentlich traurig ist, aber für mich ist es als Selbstschutz wichtig und es funktioniert auch einigermaßen.

    Ich habe gerade ein wenig in Deinem Thread gelesen und mich gefragt, ob das "dickere Fell" Deiner Brüder von hierher rühren könnte, dass sie einfach keine persönliche Beziehung mit Deinem Vater eingehen? Zudem sind ja auch die Erwartungen an Töchter andere als an Söhne. Vielleicht hat es auch damit etwas zu tun?

    Jedenfalls ist es für mich gerade hilfreich und befreiend, all diese negativen Gefühle, die mir aufgebürdet wurden und werden, zu erkennen und weit von sich weg zu weisen. Auch die Gefühle der Wut, die Du in Deinem Threat beschrieben hast, finde ich, wenn ich sie mal habe, was selten ist, sehr hilfreich. Sie zeigen einem ja, wie viel Kraft in einem steckt und können in positive Ernergie für einen selbst verwandelt werden und bei der Abgrenzung helfen.

    Hab nochmals vielen Dank und auch Dir weiterhin viel Kraft für Dich und Deine Lieben.

    Liebe Grüße Siri

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