Der "Drei-Jahres-Faden"

  • Hallo Peter,

    es berührt mich immer wieder sehr, was du von dir und deiner Umgebung erzählst.

    Du hattest dich ja entschieden, zurückzukehren bzw. dort zu bleiben und zwar in der Hoffnung bzw. in dem Gefühl, dass dir das bei der Bewältigung deines Traumas helfen könnte. ...

    Wo führt MICH das hin, diese "neue Realität"? Geduld aufzubringen fällt mir augenblicklich so schwer wie noch nie. Darum weiss ich auch, daß ich aufpassen und auf mich achtgeben muss.

    Ich kann nachvollziehen, dass dich das sehr beschäftigt. Die Antwort wird wohl nur die Zeit geben können und es wird sich für dich zeigen, ob du weiterhin dort bleibst oder doch weggehst wie so viele andere oder zwar in der Gegend bleibst, nur etwas weiter weg von dem, was dich nahezu unerträglich belastet.

    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft, ich wünsche dir Hoffnung, Erkenntnis und Geduld.

    Ich danke dir, dass du mit uns teilst, was dich beschäftigt.

    Herzliche Grüße

    🙋‍♀️

  • Hallo,

    habt ganz lieben Dank. Was mich hält, ist das Aufschreiben. Auch wenn ich das Geschriebene manchmal nicht mehr lese. Aber dann ist es erstmal aus dem Kopf. Ich lebe in einem kleinen Ferienhaus, kein Traum, aber ein Dach über dem Kopf. Mein eigenes Haus habe ich Flutopfern zur Verfügung gestellt, als ich dachte, ich würde für längere Zeit beruflich woanders arbeiten. Nun, das ist anders gekommen, als gedacht. Aber ich habe den "Flutis", wie ich sie für mich nenne, mein Haus zugesagt und deren Traumatisierung ist viel heftiger, als meine. Die Armen werde ich keinesfalls raussetzen in dieser Zeit.

    Ich werde das Dorf verlassen, wenn ich eine Wohnung finde. Augenblicklich ist das nicht möglich, denn es gibt keine freien Wohnungen abseits des zerstörten Tals. Darum muss ich Geduld aufbringen und einfach mal abwarten. Ich frage Kollegen und den Postboten. Die hören sich um und halten Ohren und Augen auf. Noch habe ich keine Antwort auf meine Frage, ob ich den Aufbau im Dorf mitmachen möchte. Eher nicht, ich fühle mich dem nicht gewachsen. Zudem habe ich nie wirklich an diesem Dorf gehangen, ich fand es nie "schön". Es war eine gute Mischung aus meinem Arbeitsplatz, dem Ferienhaus und meiner Wohnung. Das war prima zu bewältigen. Das alles ist nun Geschichte.. und das zu begreifen, tut jeden Tag aufs Neue weh. Aber ich bin sicher, das wird mit der Zeit besser.

    Es wird ein sehr trauriger Winter für alle Menschen hier im Tal. Das zu wissen macht es nicht einfacher - aber ich weiss: ich bin nicht allein mit alldem.

    Peter

  • Was mich hält, ist das Aufschreiben. Auch wenn ich das Geschriebene manchmal nicht mehr lese. Aber dann ist es erstmal aus dem Kopf.

    Hallo Peter,

    das hab ich letztens auch von jemand anderem gehört, dass Aufschreiben helfen soll, dass durch das Aufschreiben Dinge erstmal aus dem Kopf seien. Gut, dass du für dich diese Möglichkeit entdeckt hast!

    Als hilfreich empfinde ich für mich selbst immer wieder, mich auf meine eigenen Ressourcen zu besinnen. Das setzt natürlich voraus, dass ich mir überhaupt erstmal bewusst mache, was überhaupt meine Ressourcen sind.

    Zündest du noch immer am Morgen bewusst eine Kerze an?

    Besonders in der Jahreszeit, die jetzt kommt, wird mir immer wieder bewusst, was das Licht und die Wärme einer Kerze mir bedeuten. Sie tun mir irgendwie gut und bewirken, dass die Gedanken und Bilder, die bei mir in dieser Jahreszeit mehr aufsteigen als sonst, mich ein kleines bisschen weniger belasten und traurig machen.

    Herzliche Grüße

  • Ach, danke das du mich daran erinnerst! Ja, das mit der Kerze mache ich nachwievor - und ich muss morgen unbedingt neue Kerzen kaufen, um das weiterhin machen zu können :) Das Anzünden ist tatsächlich eine bewusste Handlung, jeden Morgen. Auch wenn der Anlaß traurig macht, ist es wichtig, finde ich. Meine Gedanken sind dann ganz kurz bei den armen Menschen, die in diesen Fluten gestorben sind. Mehr Gedanken kann ich nicht zulassen, weil ich das Unaussprechbare nicht zu sehr an mich ranlassen will.

    Vorhin kam mir nochmal der Gedanke, mich schützen zu müssen und das betrifft natürlich zuerst den Alkohol. Mir ist nämlich aufgefallen, daß im Wohnzimmer in einem "Wein-Ständer" (sowas unsinniges gibts echt nur in Weinanbaugebieten!) eine Flasche Rotwein steckte. Das ist mir in den vergangenen Wochen überhaupt nicht aufgefallen. Heute aber schon. Meine Vermieterin hat die wohl vergessen. Na, ich habe die Flasche vorhin gepackt und in die Abstellkammer gestellt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Alkohol wäre nach der Flut die zweite Katastrophe. Aber eine, die ich beeinflussen kann.

    Liebe Grüße, Peter

  • Das Anzünden ist tatsächlich eine bewusste Handlung, jeden Morgen. Auch wenn der Anlaß traurig macht, ist es wichtig, finde ich. Meine Gedanken sind dann ganz kurz bei den armen Menschen, die in diesen Fluten gestorben sind. Mehr Gedanken kann ich nicht zulassen, weil ich das Unaussprechbare nicht zu sehr an mich ranlassen will.

    Ich denke auch nicht, dass es notwendig ist oder richtig wäre, noch mehr Gedanken zuzulassen. Das mache ich in der Regel auch nicht, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich in meinem Befinden in der Regel dort bin, wo ich mit meinen Gedanken bin, d.h. bin ich mit meinen Gedanken bei etwas Traurigem, Belastendem, Überforderndem usw., dann ist mein Befinden auch selbst traurig, belastet, überfordert usw.

    Ich kenne das zu gut, mich in gewisse Gedanken regelrecht reinfallen zu lassen und mich zu verlieren. DAS hilft nicht wirklich. Wenn ich spüre, dass es mich hinzuzuziehen droht, sage ich laut „Stopp!“ und bemühe ggf. die gedankliche Vorstellung einer schönen alten Kommode, in die ich die Gedanken packe mit dem Versprechen/ Vorsatz, mich dann darum zu kümmern, wenn die Zeit dafür gekommen ist oder ich entsprechende Hilfe/Unterstützung habe.

    So, wie ich das aber von mir selbst kenne, vermute ich, dass du durch diese bewusste Handlung und das kurze Gedenken an die, die in den Fluten gestorben bist, einem bestimmten Bedürfnis, das du in dir trägst, gerecht und somit dir selbst gerecht wirst.

    Es gehört zu deinem Trauerprozess dazu und nach meiner eigenen Erfahrung mit Trauer und dem, was ich über den Trauerprozess weiß, ist es wichtig und richtig für dich, dass du deinen Trauerprozess aktiv und mit Rücksicht auf dein körperliches und seelisches Empfinden gestaltest. Und genau das tust du!

    Was die Flasche betrifft: Ich denke, dass es umsichtig von dir war, sie aus deinem Blickfeld zu entfernen. Nun bist du aber sozusagen durch ihre Gegenwart mit Alkohol in deiner Nähe konfrontiert worden. Ich frage mich, was das mit dir macht. Triggert es dich? Beschäftigt es dich ernsthaft oder lässt es dich mehr oder minder entspannt?

    Herzliche Grüße

    AufderSuche

    Einmal editiert, zuletzt von AufderSuche (5. November 2021 um 19:18)

  • Kurz vor Weihnachten 2019 starb meine Mutter. Drei Monate später begann Corona mit all den vielen Ungewissheiten. Sechs Monate später vollführte meine ehemalige Zahnärztin eine schlimme Fehlbehandlung an meinem Gaumen, deren Folgen ich bis heute spüre und derentwegen ich sie verklage. Und widerum sechs Monate später zerstört eine Sturzflut meine Heimat und noch einiges mehr. Manchmal denke ich, ich komme vor lauter Bewältigungen kaum zur Ruhe, aber das stimmt nicht. Ich habe gelernt auf mich zu achten, mir Ruhe zu verordnen, wenn es angebracht ist und dazu gehört auch, mich einfach mal krank zu melden. Ich muss zugeben, daß mich tatsächlich heute diese Flasche Wein, die in der Ecke stand, angepiekst hat. Das war auch der Auslöser, sie umgehend aus meinem Sichtfeld zu bringen.

    Nach einem Suizid vor meinem Zug im Jahr 2017 habe ich eine Traumatherapie gemacht, die mir bis heute hilft, sorgfältig mit mir umzugehen. Auch wenn ich schon so lange trocken bin, weiss ich um die Gefahr, die von einer Flasche Wein ausgehen kann. Ich habe immer dafür gesorgt, daß mein Umfeld alkoholfrei ist. Hier im Haus bin ich Gast und habe das schlicht übersehen. Ich bin aber auch ganz froh, daß ich mir ab und zu über diese Gefahr so klar werde, wie das heute geschehen ist. Da kann ich den bereits erwähnten Spruch, den ich noch von der Polizei kenne, ganz praktisch umwandeln: "Sei und bleibe vorsichtig!"
    Diese Flasche Wein wird mich nicht mehr beschäftigen, da bin ich entspannt. Danke dir ganz doll, AufderSuche. Du hast erkannt, wo ich gerade stehe, glaube ich.

    Viele Grüße, Peter

  • Liebe Freunde,

    Gestern konnte ich mich endlich mal "gehen" lassen. Nachdem ich einige Tage meine Trauer nur aufgeschrieben und beschrieben habe. Ich glaube, ich musste erst noch ein Stück weiter in meinen Gefühlen versinken, um weinen zu können. Immer noch bin ich jeden Tag gedanklich bei den armen Menschen, die in der Nacht des 14. Juli im rasenden Schlamm der Ahr gestorben sind. Es fasst mich unglaublich an, aber mein Leben geht weiter. Ich mache für euch seit diesem schrecklichen Tag jeden Morgen eine Kerze an und stelle sie ins Fenster, weil ich euch nicht vergesse und an euch denke.

    Nachdem ich das Weinen gestern zulassen konnte, wurden die Gedanken zu meiner Zukunft ein wenig klarer. Wahrscheinlich werde ich woanders hinziehen. Nicht weit weg, aber weg aus den Trümmern und auch so, daß ich diese Trümmer nicht jeden Tag mehrmals durchqueren muss. Es ist unvernünftig, hier wohnen zu bleiben. Jedenfalls in dieser Lage. Ich muss viel mehr auf mich achten und glaube, mir in den letzten Monaten einfach zuviel zugemutet zu haben. Es wird Zeit für eine Veränderung, damit ich mich nicht weiter verändere. Zuviel Input dieser Art macht krank, verbittert und ich befürchte, am Ende auch einsamer.

    Danke das ich das alles hierlassen kann!

    Peter

  • Hallo Peter,

    ich lese oft still bei dir mit, und dann drehe ich mich hilflos um und weiß nicht so recht, welche Worte ausdrücken könnten, was ich empfinde.

    Das alles tut mir so Leid.

    Heute bin ich genauso hilflos, will dir aber einen lieben Gruß da lassen und dir weiterhin viel Kraft wünschen und die Hoffnung und den Mut nach vorne zu schauen.

    Es ist schön zu lesen, dass du trotz all dieser schlimmen Ereignisse auf dich achtest.

    Es wird Zeit für eine Veränderung, damit ich mich nicht weiter verändere.

    Dafür wünsche ich viel Erfolg.

    Viele Grüße

    Stern

    ⭐️

    Wenn du heute aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es morgen geschafft hättest.

  • Lieber Peter, ich hoffe du findest zeitnah etwas einigermaßen passendes für Dich.

    Diese Stimmung , Traurigkeit, Verbundenheit...das macht dich aus, aber das ist so eine Belastung.

    Das Geröll und Trümmer sind meiner Meinung nach, die zusätzlichen Trigger, die ständig diesen Schmerz und Traurigkeit hervorrufen.

    Gibt es für Dich die Möglichkeit Dich an psychologische Nachsorge Teams zu wenden? Das muss bestimmt für die Betroffenen dort geben.

    Ich weiss, dass es für die Einsatzkräfte gibt.

    Ich arbeite für eine Blaulicht Organisation, die derzeit viele Brücken dort baut.

    Diese Bilder, auch jetzt, nach fast vier Monaten...

    Ich kann es so gut nachvollziehen, was du schreibst.

    Guter Gedanke mit der Kerze...

    Fühl dich gedrückt.

    LG

    Stern

  • Liebe "Sterne", ich sage das mal so, weil mir heute zwei Sterne geschrieben haben :)

    Habt ganz lieben Dank für eure Worte. Ich bin den Ortskräften des psychologischen Dienstes tatsächlich des öfteren über den Weg gelaufen. Ich bin aber "nur" indirekt betroffen und denke mir, die anderen Menschen haben mehr Anspruch darauf bzw. benötigen mehr Unterstützung, als ich.
    Zudem kann ich eigentlich ganz gut mit mir umgehen. Mittlerweile mute ich auch meinen Freunden die Ungeheuerlichkeiten zu, auch wenn ich Gefahr lauf, diese damit zu überfordern. Auch euch hier im Forum mute ich ja einiges zu mit meinen Schilderungen. Es ist wirklich so: man steht hilflos herum, dreht sich im Kreis. Diese nun schon Monate dauernde Lage im Tal macht allen am meisten zu schaffen.

    Vor einer Stunde habe ich einen Anruf bekommen und sehe mir morgen eine Wohnung an, die ich ab Januar beziehen könnte. Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet, die Ankündigung der Vermieterin war interessant... eher etwas mit "Familienanschluß", auch wenn ich mich da etwas wundere :) Egal, erstmal ansehen!

    Ich danke euch nochmal! Wunderbar, hier im Forum Freunde zu haben!

    LIeben Gruß, Peter

  • Solange das nur ne Katze ist....

    Bei einem Hund wird es wg. deiner Berufstätigkeit schon etwas schwieriger.

    Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns.
    Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. (Bert Brecht) 8)

  • Guten Morgen Peter,

    witzig, wie sich hier die Sterne bei Dir einfinden :)

    Ich finde es gut, öfter von Dir zu lesen in letzter Zeit! Ich mag Deine Beiträge sehr gern.

    Ich bin gespannt, ob Dir die Wohnumg gefällt. Berichte mal…. :)

    LG Cadda

  • Lieber Peter, ich lese sonst still bei dir mit, auch weil mir die Worte fehlen, für das Unaussprechliche.

    Es freut mich aber immer von dir zu hören und deine Kraft und den Lebensmut zu spüren, auch zwischen den weniger fröhlichen Zeilen.

    Heute früh, habe ich Fotos von Windlichtern in der Dunkelheit bekommen. Kindergartenkinder haben sie gebastelt. Als Samstag ein Martinszug durch deiner Region lief, wurden zeitgleich 1500 Windlichter zu den Häusern gebracht. Sofort musste ich an deine Kerze denken und an die schöne Geste Licht in die Häuser und die Herzen zu bringen.

    Auch wenn mir oft die passenden Worte fehlen, so wollte ich dir da lassen, dass ich mitlese und an dich denke.

    Und das ich neugierig bin, wie es mit der Wohnung weiter geht :oops:

    Ganz liebe Grüße, Lea

  • Stimmt. Petter ist ein guter. :thumbup:

    Das habe ich schon gewusst, als ich bei meinen ersten Besuchen bei ihm las. 8)

    Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns.
    Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. (Bert Brecht) 8)

  • Guten Morgen liebe Freunde,

    ach.. was soll ich nur sagen - da bin ich gestern Nacht ganz rot geworden ob der libeen Worte! Danke euch so sehr :oops:

    Die Wohnung war schön, aber doch mit reichlich familiärem Anhang. Das ist nichts für mich: ich bin erstens gern allein, auch wenn ich gesellschaftlich prima auftreten kann. Aber WOHNEN und den Rückzugsort sichern - dazu gehört für mich eine dicke Wohnungstür. Eine Art WG-Zimmer de Luxe für 750 Euro fand ich dann auch etwas überteuert.

    Ich habe während der Arbeit meine Kolleginnen angesprochen, mit denen ich gestern zusammengearbeitet habe. Sie werden meine Wohnungssuche weitertratschen *äh per Whatsapp meine ich* und dann werde ich sehen, ob sich auf diesem Verbreitungsweg was tut. Ich habe keine Eile. Allein durch den Gedanken in und an die Zukunft geht es mir besser.

    Eine ältere Kollegin hat mich zu einem späteren Zeitpunkt gefragt, wie es mir geht. Allein die Frage ist für mich eine Herausforderung. Aber dann merkte ich, wie schwer auch ihr das Fragen fiel und sie ständig mit den Tränen kämpfen musste. Als Kind sei sie mit ihren Eltern immer im Ahrtal spielen gewesen, am Fluß gesessen und gebadet. Wir waren uns still einig in der Ungeheuerlichkeit des Erlebten und schwiegen mehr. Aber auch das tat ganz gut, denn es war Schmerz teilen.

    Was Lea ansprach mit den Windlichtern, aber auch das grün anstrahlen von Gebäuden, das habe ich auch als sehr schön und tröstend empfunden. Wie momentan eigentlich jede kleine Geste gut tut. So wie unser kleines Denkmal im Dorf, daß Kinder gemacht haben. Ein Herz aus Holz inmitten eines frischen Blumenbeetes mit den Inschrift "Danke".

    Es wird schon werden... wenn es nicht nur so unglaublich schmerzhaft und intensiv wäre. Aber: das Leben hält eben alles für uns bereit.

    Danke!

    Peter

  • Liebe Freunde,

    morgens aufzuwachen, mit klarem Kopf und Verstand - das ist das Beste, was ich mir vorstellen kann. Auch nach gut 15 Jahren ohne Alkohol habe ich in meiner Erinnerung den Alk-Nachgeschmack im Mund und das zermatsche Gefühl im Kopf. Wie schön, daß ich mein Heute nüchtern erleben darf.

    Gestern habe ich erfahren, wie meine Kollegin die Flutnacht überlebt hat, und das werde ich hier teilen: Ihre Wohnung im ersten Stock wurde bis zur Zimmerdecke mit Wasser und Schlamm gefüllt, innerhalb von 10 Minuten. Türen und Fenster wurden wie von Bomben eingedrückt. Sie wurde mit rausgeschwemmt und hat sich auf einem Sarg treiben lassen, der vom gegenüberliegenden Bestattungshaus rausgetrieben worden war. Der Sarg stieß an ein Gerüst der Kirche, die für Bauarbeiten eingerüstet war. Das war ihre Rettung: das Gerüst der Kirche. Sie kletterte hoch und hat die Nacht durchnässt von oben überlebt - und alles andere Unaussprechliche an sich vorbeirasen sehen. So etwas ändert das Leben eines Menschen. Gestern haben wir uns das erste Mal wiedergesehen.


    Vieles ändert sich durch die Flut. Grundlegendes wird infrage gestellt und Grundvertrauen ist bei fast allen Menschen massiv verloren gegangen, Angst kommt hoch. Baue ich wieder auf? Darf ich überhaupt wieder aufbauen? Was ist, wenn sich das mit der Sturzflut wiederholt? Wasser und Schlamm sind tödlich. Auch ich habe diese Angst tief in mir. Sie wäre noch viel schlimmer, wenn ich nicht trocken wäre. Ich hätte nun wieder tausend Gründe, um mich zu betäuben. Den Schmerz dieser Monate auszuhalten bringt mich täglich mehrfach an meine Grenzen. Massiv und ohne Vorankündigung wollen die Tränen raus, ich kann es kaum beeinflussen, aber das bekomme ich immer ein wenig besser in den Griff. Bislang war es wichtig das zulassen zu können, nun bin ich soweit das ich denke "Nein!" denn es darf mich nicht beherrschen. Die Zukunft ist wichtiger. Ohne Alkohol, trocken und nüchtern, um das Ungeheuer Flut vom 14. Juli nicht zu meinem Lebensschwerpunkt werden zu lassen. Es sind so viele Fragen offen und so viele wichtige zu entscheidende Dinge kann ich noch nicht entscheiden. Ruhe, Geduld und Durchatmen. Immer nur für heute und immer mit ein wenig Zuversicht. "Das wird schon!" ist mein hundertfacher Gedanke jeden Tag.

    "Meine" Bahnstrecke wurde vorgestern zu einem kleinen Teil wiedereröffnet. Ich habe Menschen am Bahnsteig und an Bahnübergängen weinend und winkend erlebt. So schön kann es sein, wenn ein kleines bisschen Normalität zurückkehrt.


    Danke das ich dies schwere Zeug hier lassen darf.

    Peter

  • Hallo Peter,

    Es ist gut, das du es hier lassen kannst.

    "Nein!" denn es darf mich nicht beherrschen.

    Das mag zwar richtig sein, aber schau auch mal auf die wenige Zeit, die erst vergangen ist. Es ist ja kein Ereignis was weg ist, du bist ja jeden Tag neu konfrontiert, und es ist tief drinnen in deinem Denken. Da ist es sehr schwer, für kurze Zeit den Ausgang aus dem Gedankenkreislauf zu finden.

    Von länger mag ich gar nicht reden.

    Wie sieht es denn vor Ort für euch aus, wird euch auch professionelle Hilfe zur Verarbeitung angeboten?


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Guten Morgen, Peter,

    ich bin immer wieder tief beeindruckt und berührt von dem, was hier teilst.

    Das Furchtbare macht mich natürlich ebenfalls nachdenklich, ich selbst muss dabei oft an andere, meine Großeltern zum Beispiel, denken, die Unaussprechliches erlebt haben.

    Was mich persönlich aber ganz besonders anspricht, ist, wie du selbst damit umgehst und darüber reflektierst, wie du das bewältigen kannst und bewältigst.

    Der Gedanke, sich zum Beispiel mit Alkohol zu betäuben, scheint naheliegend, aber ich sehe das ganz wie du: Betäubung würde nichts besser machen, sondern das Ganze noch sehr viel schlimmer machen.

    Nur nüchtern bist du in der Lage, das zu tun und die Entscheidungen zu treffen, die gut für dich sind und dir wieder Zuversicht geben.

    Ich weiß von mir selbst, wie wichtig es für mich ist, Hoffnung zu haben, und sei sie auch nur winzig klein. Ohne Hoffnung hätte ich schon längst aufgegeben. Und Hoffnung stellt sich bei mir immer dann ein, wenn ich wieder eine Perspektive, eine Lösung gefunden habe, an der ich auf meinem Weg weitermachen kann.

    Ich kann gut nachvollziehen, wenn du für dich nun so weit bist, den Schmerz und jene Geschehnisse nicht zu deinem Lebensmittelpunkt werden zu lassen. Weinen, wann immer es einen überkommt, halte ich persönlich für reinigend. Ich glaube sogar, dass es gut ist, wenn man weinen kann. Es gab bei mir eine Zeit, in der ich nicht einmal mehr weinen konnte, ein sehr guter Freund von mir kann es auch nach Jahren noch nicht.

    Gewiss ist es aber auch nicht gut, mit seinen Gedanken dauerhaft in der Trauer und im Schmerz zu verweilen, sich davon beherrschen zu lassen, weil dort keine Genesung zu erwarten ist. Ich vermute, dass es das ist, was du meinst, wenn du denkst, „Nein!“.

    Ich glaube auch daran: „Es wird schon.“

    Blicke ich auf meine eigene Vergangenheit und meine Gegenwart, blicke ich auf die Vergangenheit meiner Eltern, Großeltern und deren Leben, blicke ich auf die Vergangenheit und Gegenwart der Orte, in denen ich gelebt habe, und des Ortes, an dem ich jetzt lebe, so sehe ich es: Ja, es wird.

    Es wird nicht so, wie es war, aber es wird.

    Die Frage ist für mich und es ist auch die Frage für dich: „Wie kann, will, möchte ich weiterleben?“ Immer nur für heute ist nach meiner eigenen Erfahrung ein hilfreicher Weg.

    Herzliche Grüße

    AufderSuche

    P.S: Professionelle Hilfe darfst meines Erachtens auch du dir zugestehen. Der Gedanke, dass andere vor mir Vorzug haben sollten, weil es ihnen noch schlechter geht als mir, ist mir vertraut, aber auch ich hatte es damals (und auch heute) nötig und ich wäre vielleicht nicht mehr da, wenn man mich nicht davon überzeugt hätte, dass auch ich Hilfe in Anspruch nehmen darf.

    3 Mal editiert, zuletzt von AufderSuche (10. November 2021 um 09:15)

  • Liebe Freunde,

    danke Morgenrot und AufDerSuche für eure Antworten. Ich erwarte auf meine "Berichte aus dem Grauen" eigentlich keine Antworten, weil ich das kaum jemandem zumuten mag. Aber natürlich freue mich mich trotzdem sehr über Antworten. TEILEN ist ja nicht nur MITTEILEN. Es ist ein Geben und Nehmen. Ein Schöpfen aus der Kraft und den Erfahrungen der Freunde hier. Ich weiss nun, daß Ihr recht habt und ich werde mir Hilfe suchen. Die Leute der Malteser und anderer Hilfsorganisationen laufen immer wieder durch das Tal. Bei nächster Gelegenheit schnappe ich die mir! "Nun bin ich auch mal dran!" :lol: dachte ich gerade. Die Flut ist zu groß und grausam gewesen, warum soll ich das allein bewältigen. Danke für Euren Antoß!

    Lieben Gruß, Peter

Unserer Selbsthilfegruppe beitreten!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!