Der "Drei-Jahres-Faden"

  • Lieber Peter,

    mir fehlen ehrlich gesagt die Worte.

    Wahrscheinlich gibt es gar keine Worte für das was du und all die Menschen in dieser Region durch diese Flutkatastrophe durchlebt haben und durchleben.

    Ich hoffe das du es verarbeiten kannst, es Menschen gibt die dich ein Stück mittragen und du weiterhin nicht an Alkohol denkst.

    Das Sauerland ist meine alte Heimat, es ist schön dort. Anfangs ist man Fremden ( dem Buiterling) gegenüber erstmal etwas reserviert aber mit ein bisschen Zeit taut der Sauerländer auf 😉

    Alles Gute für den Start dort und ansonsten natürlich sowieso...

    Liebe Grüße

    S.

  • Hallo Peter,

    ich kann deine Entscheidung sehr gut verstehen.

    Alles hat seine Zeit und wenn jetzt Abstand angesagt ist, dann ist das so.

    Was da gerade geschieht ist erschütternd.

    Es ist sehr berührend zu lesen, daß du einerseits selber für dich sorgst und gehst und damit indirekt einer anderen Familie die Möglichkeits gibst zu bleiben. Das ist sehr großherzig.

    Du bist ein feiner Mensch.

    Ich drück dich und ich drück dir die Daumen, daß du im Sauerland zur Ruhe kommen kannst.

    Lieber Gruß, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Hallo Peter,

    ich kann Deine Entscheidung sehr gut nachvollziehen. Du schützt Dich damit ja auch und es ist gut, dass Du auf Dich achtest. Mir tut es sehr leid, das wollte ich gern einmal loswerden. Ich finde es beruhigend zu lesen, dass auch in solchen schlimmen Situationen Alkohol keine Rolle spielt. So soll es sein!

    LG Cadda

  • Liebe Freunde,

    das ist so lieb und tut so unglaublich gut, daß ich weiß: im Forum ist immer jemand da und antwortet! Wie wunderbar, vielen, vielen Dank!

    Nun hat sich doch alles wieder geändert, wie schon seit der Flut-Nacht sich jeden Tag immer wieder was ändert, weil die Lage danach eben so extrem dynamisch war.

    Ich habe verkannt, daß auch ich "geschädigt" bin. Zwar nicht materiell oder körperlich, aber seelisch. Sieben Wochen Ausnahmezustand haben Spuren hinterlassen. Zwar habe ich vieles durch "funktionieren" wegdrücken können - aber irgendwann kommt alles zurück. So ist es mir vorgestern in einer Schulung ergangen. Ich saß und hörte zu, doch aufgenommen habe ich nichts. Statt dessen liefen mir einfach die Tränen, ich konnte nichts dagegen tun. Ich sagte mir ernsthaft: "Peter, nachher gehst du am Bahnhof über die Brücke und springst einfach runter." Suizidgedanken hatte ich das letzte Mal, als ich noch gesoffen habe. Plötzlich wusste ich: sofort nach Hause fahren! Ich habe die Schulung abgebrochen und bin in meine Unterkunft zurück.

    Dort habe ich versucht, in mich zu horchen: was ist richtig, was ist falsch, was brauche ich - und mache ich gerade überhaupt das Richtige? Ganz schwere Fragen für mich derzeit. Ich habe mit meinem Vorgesetzten gesprochen, auch mit meiner Chefin. Alles zeigen viel Empathie und versuchen, zu beruhigen.

    Am Ende des Tages habe ich alle meine Sachen gepackt und ins Auto verfrachtet. "Du kannst vor der Katastrophe nicht wegrennen." kam mir in den Kopf und habe mich entschieden, ins Ahrtal zurückzufahren und die Ersatzdienststelle im Sauerland abzusagen. Ich habe mich krankschreiben lassen und versuche, zur Ruhe zu kommen. Eine Freundin hat mich in ihr kleines Ferienhaus gelassen, dort bin ich nun und schreibe. Mein eigenes Haus habe ich ja an Flutopfer abgetreten, und dabei bleibt es natürlich auch. Dantes Nachricht und seine Frage, ob ich überhaupt mal irgendwo ankomme, habe ich damit beantwortet, glaube ich :) Bis zur Flut-Nacht habe ich dieses Tal als meine Heimat gesehen, danach war ich im Zweifel - aber nun weiß ich: ja, ich gehöre genau hier her, auch wenn es gerade überall grausig aussieht und alle traumatisiert sind.

    Ich bin bei Freunden berüchtigt für meine spontanen "Wendungen" im Leben. Manchmal denke ich, es wäre besser, etwas intensiver nachzudenken. Ich will immer gleich eine Lösung. Das hat mir so manches erschwert in meinem Leben. Aber vielleicht war es manchmal auch richtig.

    Danke fürs Lesen!

    Peter

  • Hallo Peter,

    wie gut, das du dich fürs Leben entschieden hast.

    Diese "Schäden" die du beschreibst werden oft einfach nicht beachtet. Gut das du offene Ohren gefunden hast.
    Abgesehen von der Flutkatastrophe hatte sich ja das Leben durch Corona auch schon verändert, das bleibt nicht in den Kleidern hängen.

    Ich wünsche dir das du zur Ruhe kommen kannst.

    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Lieber Peter,

    ich hatte Tränen in den Augen, als ich deinen Bericht gelesen habe.

    Du hast dich zunächst für Abstand entschieden und jetzt für Annäherung. Und genauso kannst du das weiter entscheiden. Deine Antennen sagen dir genau, was nicht geht, was geht, was du willst, was du kannst oder nicht kannst, was wann dran ist. Heimat ist eine kraftvolles, tiefes Gefühl, viel mehr als nur eine Adresse. Und auch viel mehr als diese Katastrophe. Es ist die Sprache, es sind die Menschen, es sind die vertrauten Wege und es ist die Sicherheit jederzeit zu wissen was wo ist. Meistens. Denn manchmal ändert sich etwas im Gefüge.

    Ich habe den Anblick meiner kleinen Bergkette so verinnerlicht, daß ich ihre Silhouette überall auf der Welt und noch in hundert Jahren wiedererkennen würde. Wenn ich heimfahre, egal von wo, diese Vertrautheit gibt mir ein tiefes, ruhiges, gutes Gefühl.

    Ja, nichts ist für ewig. Das geht Menschen so und Tälern auch. Aber solange sie da sind, egal wie es ihnen gerade geht, sind sie lebendig und irgendwo zwischen sanfter und dramatischer Bewegung. Man darf sich nur nicht gegen die Veränderung sperren. Dieser Kraftakt ist weder für eine Uferpromenade noch eine Seele machbar. Lebendig bleiben, weinen, mitschwingen, lachen, annehmen, tun. Das tut auch weh, aber weniger weh, als wenn man sich innendrin hart macht.

    Liebe Grüße, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Danke euch allen sehr, mir fehlen echt die Worte für so lieben Zuspruch!

    Angst, Abstand, Annäherung, Heimat - was für große Dinge das doch sind. Ich bin nun in der dritten Woche krank geschrieben und merke, wie gut mir langsam die Auszeit tut. Die ersten sieben Wochen nach der Katastrophe waren geprägt von verstehen, entscheiden, handeln und vor allem von Fassungslosigkeit. Immer wieder kam die Trauer, für die leider wenig Platz blieb. Ein Tag hat nur 24 Stunden, wie soll ein Mensch in einer extremen Ausnahmesituation das alles bewältigen? Das geht nur durch Schutz, durch "Zumachen" und auf später vertagen.

    Wenn ich in unser amtliches Blättchen der Verbandsgemeinde schaue, dann will ich als erstes die Traueranzeigen durchgehen. Schon während Corona 2020 habe ich das gemacht und mich in stilles Entsetzen vertieft, ob der unfassbaren Zunahme der Zahlen. Nun passiert das Gleiche noch einmal, nur brutaler. Jede Anzeige mit dem Datum 15.07.21 lässt mich erschaudern. Manchmal sind es Kinder, manchmal Ehepaare, manchmal alte Menschen - dabei trauere ich um jeden Menschen, gleich ob ich sie kenne oder nicht. Jeden Morgen mache ich seit dem 15.07. eine Kerze an und hoffe, daß es ihnen gut geht. Das Grauen, in einer Schlammflut mitgerissen zu werden, ist jenseits meiner Vorstellungskraft. Abends gegen 21 Uhr gingen nacheinander erst die Strom- und dann die Wasserversorgung in die Knie. Es folgte kurz danach der Zusammenbruch von Gas und der Telekommunikation. Es wurde dunkler und das Wasser stieg und stieg. Bis halb sechs rasten die tödlichen Massen an Schlamm und Wasser fast 30 Kilometer durchs Tal. Ich gedenke jeden Tag der armen Menschen, die nicht mehr sind.

    Das Leben geht sehr langsam wieder voran. In Bad Neuenahr werden nun zwei große "Mall-Zelte" errichtet, damit die Menschen wieder einkaufen können. Nachwievor hat kein Geschäft geöffnet, weil die Stadt vollständig bis zur ersten Etage im Schlamm versank. Jetzt wird mit diesen Zelten ein wenig Normalität wiederkehren. Ob das in unseren Dörfern weiter oben auch möglich wird, das will ich mal hoffen. Ich bin trotz allem guter Dinge und widerspreche jedem im Dorf, der mir zuviel lamentiert. Tagsüber kann ich sehr gut aufrecht durchs Dorf gehen und Mut machen, das hilft auch mir selber. Abends zweifle ich dann ein wenig, aber da ich ein wirklich positiver Mensch bin, glaube ich meinen Worten lieber :)

    Habt ganz lieben Dank. Daß Ihr mich lest und das ich das hierlassen darf!

    Peter

  • Hallo Peter,

    ich danke dir, das du mich teilhabe4n läßt an deinen Gefühlen eines selbst Betroffenen der Flutkatastrophe.

    Nimm dir die Zeit, die brauchst um wieder zu Kräften zu kommen.


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Hallo Peter!

    Ich bin auch von der Flutkatastrophe betroffen es hat uns zum Glück aber nicht so schwer getroffen wie die Leute im Ahrtal. Aber auch im meinem Bekanntenkreis gibt es genug Leute die ihr ganzes Hab und Gut verloren haben. Bei uns in der Stadt ist auch kein einziges Geschäft heil geblieben und noch immer türmen sich die Schuttberge auf den Strassen.

    Niemals hätte ich gedacht daß so etwas möglich sein könnte denn es waren noch nichtmal Flüsse sondern eher unbekannte Bäche die diese verheerende Katastrophe ausgelöst haben. Ich habe mich auch ehrenamtlich betätigt so weit es mir möglich war, aber diese vielen Schicksale machen mich oft einfach sprachlos.

    Es wird noch lange dauern bis diese immensen Schäden beseitigt und behoben sein werden, manches ist unwiederbringlich verloren. Ich möchte dir auch Mut zusprechen, irgendwie geht es ja immer weiter auch wenn es nie mehr so sein wird wie früher.

    LG Marie

    Wer nichts ändern will für den ist die Opferrolle die beste Strategie!

  • Hallo Peter,

    Das ist so unfassbar, ich sehe täglich diese Bilder...und auch die langsame, sehr sehr langsame Fortschritte beim Wiederaufbau.

    ich wünsche Dir viel Kraft.

    Respekt, dass Du weiterhin trocken bleibst.

    Fühl Dich umarmt.

    Gruß

    Stella

  • Hallo Peter,

    ich habe gerade erst deine letzten Erfahrungsberichte gelesen. Danke, dass du das und deine Empfindungen mit uns teilst. Es berührt auch mich sehr.

    Mir berührt natürlich das Unfassbare, was du aus deiner Heimat geschildert hast, aber ganz besonders berührt mich deine Stärke und wie du auf deine innere Stimme hörst und für dich sorgst.

    Aus eigenem Interesse beschäftige ich mich gerade mit dem Thema „Trauma“. Nun habe ich keine Naturkatastrophe erlebt, sondern nur eine Art „Entwicklungstrauma“, aber da ist etwas in den Schilderungen deiner Gedanken und Empfindungen, was ich auch von mir kenne.

    Ich freue mich aufrichtig für dich, dass du noch da bist, und darüber, wie du offenbar für dich (und andere) zu sorgen vermagst. Ich hoffe, du weißt, dass du dir alle Zeit nehmen darfst, die du brauchst, um zu genesen.

    Ich nehme mir derzeit gezwungenermaßen, weil es bei mir im Moment akut ist, viel Zeit für meine jeweiligen Empfindungen. Dafür, sie wahrzunehmen, sie anzunehmen und meinen Weg zu finden, entsprechend für mich zu sorgen.

    Ich wehre mich nicht mehr gegen gewisse Empfindungen, die immer unerwünscht waren, vor denen ich Angst hatte, die von mir bekämpft und weggedrückt wurden und deshalb sogar tief in meinem Inneren verborgen sind.

    Ich lerne sie jetzt erst wirklich kennen und auch allmählich, was ihre jeweilige Aufgabe ist.

    Dass du jeden Morgen eine Kerze anzündest, halte ich für einen guten Weg, mit der Trauer umzugehen. Ich habe diesen Weg im Umgang mit eigener Trauer auch als sehr hilfreich kennengelernt.

    Ich wünsche dir viel Kraft und Mut und Gelassenheit.

    Herzliche Grüße

    Kirsten

  • Liebe Freunde,

    ich danke Euch wieder sehr für das gute Feedback. Auch das hier noch andere Betroffene wie Marie schreiben, berührt mich.

    Wir alle in diesem Forum haben schlimme Dinge im Leben durchgemacht. Niemand hat Anspruch auf das Schlimmste oder Schrecklichste - was wäre das auch für ein Anspruch. Aber wir haben mit unserer Sucht und unserem Weg in eine trockenes und zufriedenes Leben schon sehr viel erlebt und vor allem erreicht. Nie zu vergessen, wie es als nasser Alkoholiker war; nie zu vergessen, was das für eine schreckliche Ausweglosigkeit war - das habe ich mir ganz oben in meinem Hirn verankert.

    Ich bin sicher, daß in diesem Hochwasser-Dilemma viele Menschen wieder trinken oder anfangen, zu trinken. Das sie wieder zur Zigarette greifen oder zu Dingen, die sie vom Arzt bekommen. Ich habe mir beispielsweise ein Schlafmittel verschreiben lassen. Meine Hausärztin weiss natürlich über mein Alkoholikerleben Bescheid und meinte "Die kleinste Packung! Und bitte nur, wenn es nicht anders geht!" ... Daran habe ich mich gehalten. Wir leben in der zehnten Woche "danach" und ich habe zweimal zur Schlaftablette gegriffen, um das Kopfkino wenigstens vor dem Einschlafen loszuwerden. Ich bin sparsam mit solchen Sachen. "Wegmachen" ist einfach nicht mehr mein Ding. In dieser Situation aber "gönne" ich mir das und ich kann damit umgehen.

    Gerade habe ich noch einen Abendspaziergang durch das verwundete Dorf gemacht. Abends ist es ruhig; keine Maschine, kein Bagger, keine LKW oder Abrissbirnen dröhnen mehr. So oft ich mich stark genug fühle, mache ich so einen Spaziergang. Das Grauen zu sehen, aber auch die neuen großen Lücken Dorf zu begreifen, hilft mir glaube ich bei der Verarbeitung dieser schrecklichen Katastrophe.

    Kirsten hat das Thema "Trauma" angesprochen. Für mich war bisher ein Trauma stets ein Ereignis, daß von jetzt auf gleich geschah und das unserem Verstand keine Zeit ließ, zu begreifen und verarbeiten. So war das bei dem ersten Verkehrsunfall, bei dem ich als junger Mann meinen besten Freund und Arbeitskollegen verlor. Auch als sich ein Mann vor meinen Zug legte, war das ein schlimmes Trauma, ein sehr brutales dazu. Als ich im Fernsehen die Flugzeuge in New York in die Hochhäuser fliegen sah, war das ganz sicher auch ein Trauma. Das Hochwasser von vor zwei Monaten natürlich in ganz besonderer Weise. Ein Trauma zu begreifen, anzunehmen, damit umzugehen und auf sich Acht zu geben, das ist Schwerstarbeit. Aber sie ist machbar. Vor allem, wenn man bewusst nüchtern ist.

    "Unerwünschte Empfindungen", wie Kirsten schreibt, nicht wegzudrücken, sondern zuzulassen und damit leben zu lernen, das ist wohl ein guter Weg.
    Als ich in mein selbst bestimmtes Leben zurückkehrte und nüchtern wurde, habe ich immer große Angst gehabt: vor dem ersten schlimmen Ereignis, daß mich aus der Bahn werfen würde und das mir eine Flasche Bier als ersehnter Anker erscheinen könnte. Das ist mir nie passiert und darüber bin ich unendlich froh und dankbar. Den möglichen Tiefen des Lebens eine Art "Handwerkszeug gegen den Suff" entgegenzustellen, ist richtig. Und am besten tut man das von Anfang an. Denn der nächste Stolperstein oder das nächste Unglück kommt fast sicher - diese Dinge gehören leider zum Leben. Es liegt an uns, damit umgehen zu können. Nur wir haben das in der Hand.

    Danke das ich das hier lassen darf!

    Peter

  • Lieber Peter,

    es tut mir so Leid, was in deiner Heimat geschehen ist. Worte dafür finde ich gar nicht so richtig.

    Dieses fürchterliche Leid für jeden Einzelnen kann ich sicher nur erahnen.

    Mir vorzustellen, was das alles für alle Betroffenen bedeutet, treibt mir die Tränen in die Augen.

    Ein Trauma zu begreifen, anzunehmen, damit umzugehen und auf sich Acht zu geben, das ist Schwerstarbeit. Aber sie ist machbar. Vor allem, wenn man bewusst nüchtern ist.

    Ich finde, du leistest diese Schwerstarbeit wirklich gut.

    Es wird noch lange schwer sein, aber nüchtern wird es auch wieder einfacher, ganz sicher.

    Ich denke an dich und wünsche dir auch weiterhin viel Kraft.

    Viele Grüße

    Stern

    ⭐️

    Wenn du heute aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es morgen geschafft hättest.

  • Liebe Freunde,

    wieder sind schon soviele Tage vergangen seit meinem letzten Text und den lieben Antworten und "Mutmachungen". Ich danke euch sehr, es ist so gut zu wissen, daß ich nicht allein bin. Es ist komisch: ich fühle mich mit dem Flut-Erlebnis fürchterlich allein, obwohl ich weiss, daß alle betroffen sind. Das Trauma hat jede und jeder für sich zu bewältigen und obwohl ich mit so vielen rede, fühle ich mich dennoch allein und denke "Niemand kann das nachvollziehen.". Ich weiss, daß ist nicht richtig, aber ich beschreibe ja auch nur, wie ich das empfinde. Die Menschen hören mir entgeistert zu, wenn ich berichte und ich sehe ihnen an, daß es über den Verstand geht. Das aber kann ich ja niemandem zum Vorwurf machen. Es ist eben einfach zu unglaublich und zu schrecklich - warum sollten andere Menschen das auch zu nahe an sich ranlassen. Dafür habe ich Verständnis. Interessanterweise erkenne ich jeden "Gefluteten" aus dem Ahrtal an den Augen. Egal ob jung oder alt - alle haben die gleichen Erschöpfungs-Augen aus dem Horror der letzten drei Monate zurückbehalten. Und alle machen diese unglaublichen Erlebnisse der letzten drei Monate um Jahre älter, auch mich. Manchmal frage ich mich: wie wird mich das verändern? Werde ich mich irgendwie ändern? Wie werde ich zum Beispiel in ein oder drei Jahren sein, wenn Tod und Verwüstung längere Zeit zurückliegen? Und wie werde ich damit umgehen, wenn ich sehe, daß Menschen ihre Häuser und Wohnungen wieder nahe am Wasser aufbauen? Ich reagiere schon jetzt gereizt, wenn mir Nachbarn und Kollegen voller Überzeugung sagen, diese Sturz-Flut habe mit dem Klimawandel nichts zu tun. Das sind die gleichen Nachbarn, die im Sommer jeden Abend den Grill anwerfen und sich Heizpilze in den Garten stellen, damit sie es beim Rauchen schön warm haben. Dann steigt Wut in mir hoch und ich tröste mich mit dem Ende eines älteren Gedichtes von Erich Kästner, in dem er zum Ausdruck bringt, daß am Ende die Menschen, genauso wie die Affen, auf den Bäumen sitzen und nichts tun werden.

    Ich trinke nachwievor nicht. Egal, was seit meinen nüchternen Tagen im Jahr 2006 geschehen ist: ich bin zufrieden ohne Alkohol und bewältige immer noch ungeheuer viel in meinem nüchternen Leben. So soll das auch bleiben. Als ich vor einiger Zeit von Kollegen öfter als "unglaublich gelassen und cool" gespiegelt wurde, dachte ich erst an eine Verwechslung. Aber ich habe mich beobachtet und bemerkt: da ist was dran. Die jahrelange Arbeit, immer mit dem Ziel im Kopf, zufrieden nüchtern leben zu können, hat mich wohl tiefenentspannt gemacht. Und wenn ich es mal nicht bin, so gelassen, dann weiss ich um die Wege, mich runterzufahren. Meine Schwester hat das bei einem Besuch kürzlich so formuliert: sie bewundere, wie ich mich von Menschen behutsam und konsequent abgrenze, um gesund zu bleiben. Die betroffenen Menschen merken das aber noch nicht mal. Für die bin ich trotzdem der "nette Kerl". Hätte man mir das vor oder zu Beginn meiner Trockenheit gesagt, hätte ich noch nicht mal verstanden, worum es geht :)

    Das nüchterne und trockene Leben ist eine wunderbare und anhaltende Reise zu sich selbst. Das erlebe ich so, immer wieder.

    Danke euch herzlich, daß ich das alles hier lassen kann!

    Petert

  • Hallo Peter,

    das mit den Augen kenne ich. Ich erkenne Menschen, die sexuell mißbraucht worden sind, an ihren Augen, ihrer Haltung, an ihrer Bewegung. Die Geschichte gräbt sich tief in den Körper ein, auch wenn man meint, sie nur noch im Kopf zu haben. "Es" ist doch vorbei, es ist Tage, Monate, Jahre, Jahrzehnte später... Ja, aber es ist tief ins Körpergedächtnis eingraviert worden. Und durch die Augen kann man einen Blick ins Innere erhaschen.

    Vor ein paar Tagen habe ich etwas Schlimmes und etwas Gutes erfahren. In Rotterdam wurde eine Frauenleiche geborgen, schon vor einer Weile. Das DNA-Ergebnis liegt nun vor und es ist eine der bis jetzt Vermissten aus dem Ahrtal. Es ist erschütternd und es ist gut zugleich. Die Ungewissheit für die Angehörigen hat ein Ende.

    Liebe Grüße, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Liebe Freunde!

    Heute beginne ich mal mit Linde, die mir nach meinem letzten Text das mit den Augen schrieb, in denen das Unaussprechbare so lange weiter"wohnt". Ich erlebe das zum ersten Mal in meinem gar nicht so jungen Leben und es beschäftigt mich sehr. Bisher habe ich vor allem Menschen "erkannt", die mit Ängsten durch ihr Leben gehen: wie sie gehen, wie sie gucken. Hastigen Schrittes und hastigen, verhuschten Blickes. Ich erkenne diese Menschen, weil ich als nasser Alkoholiker selber so war, mit viel Angst vor mir und der Welt.

    Nun erkenne ich die Mitbewohner meines zerstörten Tals an den Augen, weil ich offenbar die gleichen Augen und den gleichen Ausdruck darin habe. Warum sonst bekomme ich sonst ein leichtes Lächeln von Menschen, die ich kaum kenne? Weil auch sie es erkennen, vermute ich. Es sind die Augen der Erschöpften, der Traumatisierten. Es ist das Unaussprechbare, daß man so oft versucht hat, in Worte und Gefühle zu packen - aber das geht nicht so einfach.

    Heute erzählte mir meine Schwester von den Schulkindern, die aufgrund der Hochwasserschäden ernorme Umwege machen müssen, um zur Schule zu gelangen. Von den ehemals 16 Schulen wurden 14 Schulen zerstört. Nun werden sie mit den Bussen durch das so schrecklich zugerichtete und ehemals so wunderschöne Tal gefahren. Morgens hin - und abends zurück. Sie werden also immer wieder mit Bildern und Erinnerungen konfrontiert. Ich habe mal gelesen, daß Kinder mit so grauenhaften Erlebnissen durchaus gut zurechtkommen, aber glauben kann ich das irgendwie noch nicht. Mich selber nimmt der Weg durch das kaputte Dorf ganz arg mit, das hatte ich schon geschrieben.

    Es sind sehr anstrengende Wochen. Man weiss nicht so recht, wie es weitergeht - aber natürlich würde man das gern wissen und zwar sofort, damit dieser Horror ein greifbares Ende hat. Alle sind ungeduldig und jeder möchte umgehend alles wieder so haben, wie vor der Sturzflut. Aber der normalste und früher einfachste Weg wird zu einem Gang durch Geröll, durch Matsch und durch Zerstörung. Damit leben wir nun seit drei Monaten und sechs Tagen. Und damit werden wir noch lange leben. Wir sind alle erschöpft, aber wir haben es auch irgendwie überlebt. Momentan haben fast alle Menschen hier Angst vor dem Winter: weil es dunkel ist, weil es kalt ist. Aber mir geht es anders: die Zeit der Besinnlichkeit steht bevor, die Zeit von Kerzen und von Düften aus Zweigen und Öfen. Mir hilft das besser, als wenn jetzt Hochsommer wäre. Und am besten in dieser schweren Lage hilft mir mein nüchternes, trockenes Leben.

    Peter

  • Ich muss immer wieder schreiben und es loswerden, was ich täglich erlebe. Wenn ich schreibe merke ich, wie gut mir das tut, weil ein kleiner Teil der Seele entlastet ist. Ich bin ein etwas seltsamer Mensch: in Tagen nach der Sturzflut habe ich kopflos vor dem gestanden, was da geschehen ist. Ich konnte nur einmal kurz weinen. Die Situation war so ungeheuerlich... und sie ist es bis heute. Der Verlust von Menschen ist immer ein sehr einschneidendes Erlebnis, man wird an seine Grenze gebracht und muss sehen, wie man damit zurecht kommt. Trauer erlebe ich sehr körperlich, mir dann tut wirklich alles weh. Aber vor etwas zu stehen, daß im Leben alles infrage stellt, überfordert mich seit dem 14.7. jeden Tag. Aufzuwachen und zu erleben, daß Straßen, Brücken, Häuser, Gas, Strom, Wasser, Arbeitsplatz und Menschen weg sind, ist absolut irreal. Die grauenhaften Verwüstungen und Veränderungen von allem Gekannten machen mir sehr zu schaffen. Das nicht endende Leid und die Geschichten der Menschen dazu muss ich manchmal wegdrücken, weil ich es nicht mehr aushalte. Gestern sagte ein Bekannter "Peter, ich muss jedes Mal weinen, wenn ich ins Dorf fahre." und das erlebe ich genauso. Beim raus- und beim wieder reinfahren. Heute Nacht kam ich von der Arbeit zurück und habe gesehen, daß wieder zwei Häuser am Nachmittag abgerissen wurden. Das erschlägt mich. Von ehemals 550 Menschen leben hier immer nur noch 50 Menschen. Anfangs dachte ich, daß ist sicher dem kommenden Winter geschuldet, aber das ist nicht richtig. Die Menschen gehen in nicht geringer Zahl weg. Ich (wir alle Betroffenen) sind in einer Lage, nicht entscheiden zu können, was richtig oder falsch ist. Alles ändert sich fast täglich und wir ändern uns mit dieser Katastrophe. Wo führt MICH das hin, diese "neue Realität"? Geduld aufzubringen fällt mir augenblicklich so schwer wie noch nie. Darum weiss ich auch, daß ich aufpassen und auf mich achtgeben muss. Zu trinken kommt nicht in Frage. Auch und erstrecht nicht nach über 15 Jahren nüchternen Lebens. Im Auto hörte ich zufällig ein Lied von Herbert Grönemeier und den Satz "Das Leben ist nicht gerecht." ... Wie wahr, dachte ich.

    Peter

  • Danke für den Bericht, Petter, ich konnte gut mit Dir mitfühlen. Ich weiß, welches Lied Du meinst, das ist ein echter Tränendrücker, dem man sich herrlich hingeben kann, um sich im Leid zu baden. Daß Du selbst angesichts der Apokalypse nichts trinken wirst, das glaube ich Dir aufs Wort, aber die Sache nimmt Dich ja doch mit, jeden Tag. Wie ist denn Deine persönliche Situation? Hast Du es trocken und wohnlich? Würde es Dir helfen, das Trauma zu überwinden, wenn Du mit anpackst? Oder wäre vielleicht sogar ein Wohnungswechsel eine gute Idee?

  • Moin Peter,

    ich setze ich einfach mal still zu dir, höre dir zu und wünsche dir so sehr, dass du den Mut nicht verlierst.

    LG PB

    Es nützt nichts Jemandem eine Brücke zu bauen, der gar nicht auf die andere Seite will.

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