Erinnerungen an bereits gegangene Menschen

  • Hallo

    Ich möchte einen Thread eröffnen, in dem ich mich an Menschen erinnere, die den Weg mit mir in die Trockenheit gegangen und mittlerweile verstorben sind. In jeder Jahreszeit erinnere ich mich gerne an Sie, und ich fühle mich weiterhin an viele Sachen, die damals gesagt wurden, gebunden.

    U., Du bist vor mir die Treppe zu meinem allerersten Vorgruppenabend hochgegangen. Du sahst nicht aus wie ein Alkoholiker, und als Du Dich im Vorraum hinsetztest, da dachte ich noch, dass Du hier wohl verkehrt wärest. Warst Du nicht, und im Gruppenraum sassen wir uns dann zum allerersten Mal gegenüber. ich war damals 40 Jahre alt, Spiegeltrinker, und Du 69 und Quartalstrinker. Mein lieber Mann, wir beide haben uns im weiteren Verlauf der Therapie nichts geschenkt! Trotzdem hatten wir Respekt voreinander, und auch nach der Therapie sind wir noch einige Jahre gute Freunde geblieben. Was haben wir gelacht, als wir 2 Jahre später über unseren ersten gemeinsamen Weg die Treppe hoch von dem Anderen gedacht hatten! Ich dachte damals, was wohl der alte Sack hier wolle, und Du hast gedacht, was will denn der Jammerlappen hier? Beide dachten wir: Wenn der das schafft, dann schaffe ich das erst Recht! Es ist dann ja auch so gekommen. Du bist mit 73 Jahren auf einer Düne sitzend umgekippt und verstorben. Wie Du es Dir vorgenommen hattest, es war nichts, aber auch überhaupt nichts an Alkohol in Dir, als sich der Deckel schloss. U. Du fehlst mir heute noch sehr!

    A., Du warst die strahlende Erscheinung in der Therapie und später in der SHG. Wie sehr hattest Du Dich verändert, als Du aufhörtest mit dem Trinken. Das war unbeschreiblich. Als wir mit der Therapie begannen, da war Deine Selbstachtung und Dein Selbstvertrauen zerstört. Das strahltest Du auch aus, Dein ganzes Inneres und Äußeres war vom Alk zerfressen. Die Therapie war wie ein Frühling für Dich, und Dein Selbstvertrauen und Deine Selbstachtung kamen zurück, wie auch Dein Optimismus. Leider hattest Du Dich mit Deinem ehemaligen Lebensabschnittsgefährten, mit dem Du getrunken hattest, wieder versöhnt. Unsere Warnungen sind leider nicht zu Dir durchgedrungen. 3 Wochen, nachdem er wieder bei Dir eingezogen war, hatte er Dir in Deiner Unterwäscheschublade eine Flasche Prosecco als Überrschung hineingelegt, und als Du sie fandest, da meinte er, dass Du doch solange keinen Alkohol getrunken hättest und jetzt damit umgehen könntest. Da wäre doch ein Sektfrühstück wie früher möglich. An dem Tag hattest Du Dich so betrunken, dass Dein "Freund" uns anrief und wir Dich in die Entzugsklinik brachten. Wir hatten damals den Verdacht, dass er mit der starken trockenen Frau, die Du inzwischen warst, nicht umgehen konnte, dass ihm ganz einfach die Macht über Dich fehlte, und dass er deswegen den Prosecco bereitgelegt hatte. Es war infam von ihm, aber Du hättest auch nein sagen können. oder mich anrufen, oder O. anrufen, wie wir es besprochen hatten, wenn einer von uns in solch eine Situation gerät. 2 Wochen nach diesem Vorfall wurden wir erneut angerufen, und Du wurdest erneut in die Entzugsklinik eingeliefert. Dann, nach weiteren 2 Wochnen wurde ich benachrichtigt, dass Du volltrunken an Deinem eigenen Erbrochenen gestorben wärest. Einen Tag vor Deiner Beerdigung hat sich Dein Freund dann vor einen herannahenden Intercity gestellt, und ich gebe es zu: Bis heute erfüllt es mich Ingrimm, wenn ich an diesen Menschen denke. Du, A., Du hattest alles vor Dir, und Deine Euphorie war mitreissend.....und heute ist sie mir immer noch eine sehr ernst Warnung.

    O., Du warst für mich wie eine Vorgesetztenfigur in der SHG. Knallharte Ansagen, ungeschönte Analysen von Gesagtem, sehr wissender Mensch, das warst Du. Es hat fast 2 Jahre gedauert, bis ich Dir zum ersten Mal vehement widersprochen hatte, und innerlich bereitete ich mich schon auf ein "Donnerwetter" vor, welches dann aber ausblieb. Stattdessen hast Du gelächelt und zu mir gesagt: Na endlich! Haben wir Dich aus Deiner Opferrolle rausgeholt? GUT! Weiter so! O, Du bist an einer Lungenkrankheit gestorben. Du hast soviel für uns, Deine Gruppe, getan, und dabei bist Du oft an Dein Limit gegangen und auch drüber. Das hat bis heute keiner vergessen, und Du O., Du bist unvergessen.

    H., Du verrücktes Stück Mensch, Du in Deiner Verrücktheit total liebenswerter Mensch, dass Du durchgehalten hattest, dass hatte ich niemals erwartet. Nie! Aber Du bliebst eisern, was den Alkohol anging. Unsere Freundschaft war auch etwas besonderes. Eigentlich wollten wir uns nur Treffen in Hamburg, aber dann sassen wir plötzlich im Cafe Montmatre im Norden von Paris. Warum? Weil wir es konnten. Die Telefonate an unsere Ehefrauen verliefen ähnlich kritisch, aber als wir uns am nächsten Morgen auf der Rückfahrt meldeten, da entspannte sich die Lage deutlich. H., Deine schwere Lungenerkrankung hat Dich nicht davon abgehalten, weiterhin Deine Roth Händle zu rauchen, selbst im Krankenhaus, als Du gerade unbemerkt verstorben warst, lag eine, Deine, qualmende Zigarette auf dem Fussboden. Wir sehen uns wieder! Und dann nehmen wir den Highway to Hell!

    R., Du hast Dich während Deiner Zeit in der Gruppe wahnsinnig gut entwickelt. Du kamst als Mensch, der seinen Führerschein verloren hatte und jetzt einen Beleg für die MPU haben wollte. Irgend etwas muß dann bei Dir KLICK gemacht haben, und Du bist in der Gruppe geblieben. Es war gut, Dir zuzuhören, und Du bist derjenige, den ich gerne als einen Menschen benenne, der es ohne Therapie geschafft hat, vom Alkohol loszukommen. Du wurdest sogar unser Gruppenleiter nach dem Tod von O., und ich sehe heute noch Deine Augen vor mir, als Du einstimmig gewählt wurdest. 7 Tage bevor Du wegen Bauchspeicheldrüsenkrebs in ein Hospiz gingst, hatte Deine Frau mich angerufen und mich gebeten, doch einmal vorbeizuschauen. Wir beide haben dann geredet, und uns war bewusst, dass es nicht mehr viele Möglichkeiten dazu geben würde. Wir sprachen auch über Deine Wahl zum Gruppenleiter, und Deine Freude darüber schimmerte wieder aus Deinen Augen. Als ich dann ging, da haben wir uns ganz fest umarmt, und das war gut so. Du hast keine Nacht im Hospiz verbracht, sondern bist vorher gestorben. R., Du hattest Größe! Ich vermisse Dich.

    F., wir kannten uns nur wenige Monate. Die körperlichen Auswirkungen Deiner Alkoholsucht entsprachen exakt den Meinigen, und das hat uns schnell verbunden. Leber kurz vor der Zirrhose, Aszites in der Bauchhöhle, Varitzen in der Speiseröhre und sonstwo, das waren nur einige Auswirkungen unserer Trinkerei. Du hattest nachts durch einen Hustenanfall Deine Frau aufgeweckt, und es war eine Unmenge von Blut in Deinem Laken. Es war wohl eine Varitze geplatzt, was oftmals unbemerkt geschieht, und Dein Hustenanfall, als dann Dein Blut aus der Speiseröhre auch in die Luftröhre kam, der hat dann auch noch weitere Varitzen zum Platzen gebracht. Im OP haben sie noch versucht, die Blutungen zu stillen, aber Du hattest schon viel zuviel Blut verloren. Dein Tod kam so schnell, wir alle waren überhaupt nicht vorbereitet darauf. Wir reden heute noch über Dein Schicksal, und ich werde oftmals das Gefühl nicht los, dass Dein Schicksal den einen oder anderen Neuzugang erreicht und ihn zum Nachdenken anregt.

    H., Du warst 12 Jahre trocken, als Du pensioniert wurdest. 12 Jahre, die Du Dich mit Deiner Behörde herumgestritten hattest, die Du wirklich aktiv verbrachtest. Dann als Pensionär bist Du in ein Loch gefallen, aus dem Du Dich nicht befreien konntest. Als Gruppe haben wir Dich unterstützt, wo wir nur konnten, aber wir blieben erfolglos. Als Du dann wieder mit dem Trinken begonnen hattest, da war uns und auch Dir klar, dass das nicht lange gutgehen konnte. Herztabletten und viele andere Tabletten mehr zusammen mit Alkohol führten dann zum Multiorganversagen. H., Du bist mir nicht nur ein guter Kumpel gewesen, sondern durch Dich weiss ich, dass mein gerade begonnender Ruhestand auch Gefahren birgt. Das nehme ich für meine Zukunft mit, versprochen.


    Vielen Dank für's Lesen! In den vergangenen 21 Jahren sind es noch mehr Menschen in meinem Bekanntenkreis gewesen, die heute nicht mehr bei uns sind. Alle hier zu benennen, das würde zu umfangreich werden.

    Ich bin nicht depressiv, sondern ich habe schon vor längerer Zeit damit begonnen, mich mit dem Nachlass verstorbener Weggefährten auseinanderzusetzen. Was an ihm hat mir geholfen, solange er lebte, und was sagt mir sein Tod. Viele Erkenntnisse kamen erst nach der Trauer. Diese Erkenntnisse sind für mich sehr wertvoll, und einigen fühle ich mich geradezu verpflichtet.

    Geht es jemandem von Euch auch so?

    Viele Grüße von Lutz

  • Danke Lutz, daß du so ein bewegendes Thema eröffnet hast.

    Ich war länger nicht online und als ich heute ins Forum kam, hat mich genau diese Überschrift unglaublich berührt.

    Dürfen sich auch andere an liebe Wegbegleiter erinnern und das hier zum Ausdruck bringen? Ich frage, weil es ja dein Thema ist.

    Lieber Gruß, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Hallo Lutz,

    das ist lieb von dir, vielen Dank.

    Ich denke, es ist einerseits Wertschätzung und Erinnerung an Weggefährten.

    Andererseits wird einem dadurch auch der eigene Weg nochmal bewußt.

    Eine Bitte habe ich - Lutz, du hast das ja gut gelöst mit den Abkürzungen - bitte schreibt so anonym wie möglich.

    Oft geht es ja um Menschen, die man in realen Selbsthilfegruppen kennengelernt hat oder auch um Familienangehörige. Bitte schreibt so, daß man weder sie noch euch erkennen kann.


    Ich möchte mal den Anfang machen mit einem meiner Weggefährten, der mir unendlich fehlt. ;(

    Meinem Moderatorenkollegen Martin.

    Am 12. Mai 2018 war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Früh morgens erfuhr ich von seinem völlig überraschenden Tod. Im Forum lief zufällig genau an dem Tag ein update und man konnte nicht rein. Ich war vollkommen verzweifelt und aufgewühlt.

    Es ist ja nicht so, daß wir Moderatoren uns alle privat kennen. Wir wohnen ja quer durchs Land verteilt. Martin war tatsächlich der einzige, der mich einigemal besucht hatte. Durch die langjährige Moderatorentätigkeit und natürlich auch durch das Tagebuchschreiben im geschützten Teil des Forums, hat man sich über die Jahre "kennengelernt" - wie man sich halt virtuell kennenlernen kann.

    Aber wie gesagt, Martin kam mich jedes Jahr ein oder zweimal besuchen, und wir telefonierten öfters. Es entstand eine tiefe Freundschaft.

    Er war jahrzehntelang Alkoholiker und das hatte an seinem Körper starke Spuren hinterlassen. Damit kam er aber gut zurecht. Er würde dieses Jahr seinen 18. Trockengeburtstag feiern können, wenn, ja wenn... ;(

    Er war lustig, zurückhaltend, ernsthaft, gründlich, zuverlässig. Er fand immer die richtigen Worte. Ich war oft überrascht, wie intensiv er hier im Forum mitlas. Irgendwann sagte er mir mal, daß er all die ganzen Jahre jeden einzelnen Beitrag gelesen hat. Jeden einzelnen.

    Ihm half das in seiner Trockenheitsarbeit, denn raus in eine reale SHG konnte er aufgrund seiner körperlichen Probleme nicht mehr. Daß er sooo schnell sterben würde, damit hat weder er noch irgendjemand sonst gerechnet.

    Für mich war er wie ein Fels, obwohl er sooo wackelig und zierlich war. Auf ihn konnte ich mich immer verlassen. Ich vermisse ihn unendlich. Er war immer ein Vorbild für mich. Seine ruhige Art, sein Humor. Er hat immer versucht sich erst mal einen Überblick zu verschaffen, bevor er geschrieben hat. Ach und seine Smilies... ^^ Er hatte ein unendlich große Smilie-Sammlung... Damit hat er in seinen Antworten oft gar nicht viele Worte machen müssen, um traurige Menschen wenigstens für einen Moment zum Lächeln zu bringen. Seine Antworten waren meist kurz, aber da war sooo viel Wertschätzung, Verständnis und Hilfsbereitschaft für uns Mitglieder hier in der SHG.

    Martin und ich sind gleich alt. Es fiel mir sehr schwer alleine weiterzugehen. Nichts ist mehr wie es war. Klar sind andere Menschen da, ich bin ja nicht alleine. Aber die Lücke, genau diese eine Lücke tut so weh.

    Ich glaube, selten hat mich etwas mehr in meinen Grundfesten erschüttert, wie sein plötzlicher Tod.

    Tut weh und tut gut, mich an ihn zu erinnern.

    Danke Lutz, daß du das Thema eröffnet hast. Der Mai ist seit drei Jahren mein schwierigster Monat. Es ist Frühling, alles blüht, alle rennen draußen rum und ich trauere.

    Ich glaube, das Schreiben hat mir etwas geholfen.

    LG, Linde

    You can't wait until life isn't hard anymore before you decide to be happy.

    - Nightbirde

  • Ich lese das mit Tränen in den Augen.

    Danke Linde!

    Seit ich "Trocken" wurde ich von wenigen verlassen, dennoch ist es hart sich zu erinnern wen und was man alles verloren hat.

    Um Ostern wollte ich unbeding nocheinmal an den Baum unter dem meine Mutter begraben ist... Sie hat mich in ihren letzten Jahren selten bis nie Nüchtern erlebt, würde jetzt sagen:

    Barthell: ich habe dir alles mitgegeben was du für dein Leben brauchst, der Rest liegt an dir, trotzdem bin ich immer da.

    Mein Therapeuth der selbst zwar nicht dem Alkohol aber sonst ziemlich allem in Jungen Jahren verfallen war ist nun auch gegangen, er hat mir soviel gegeben. hat mir gezeit wie "geil" (seine Worte) das Leben ohne Stoff sein kann und dass auch nach 30 Jahren "Clean" der Rückfall nur ein Fingerschnippen entfernt sein kann und der mir beigebracht hat, dass es absolut OK ist wenn einem "gestandenen jungen Mann" im Einkaufszentrum die Tränen laufen.

    Danke dafür!

    Danke an alle die mir bisher geholfen haben und die es noch tun werden!

    Train to survive

    survive to train

  • Hallo

    Linde66 und Barthell Ich finde Eure Antworten einfach nur schön und absolut würdig gegenüber den Menschen, die Euch verlassen mussten. Danke!

    Beim Schreiben meines Threads spürte ich auch Trauer und Wehmut, aber je intensiver ich an den beschriebenen Menschen dachte, umso lebendiger wurde er in meinem Kopf. Viele gemeinsam erlebte Sachen waren plötzlich wieder incl. Gefühle da. Teilweise musste ich sogar über uns lächeln, und am Ende, als ich dann den Thread fertiggeschrieben hatte, da war ich innerlich total ruhig, so richtig tief ruhig.

    Ich habe sie nicht vergessen.

    Viele Grüße von Lutz

  • Hallo Lutz,

    hast Du noch irgendwo einen anderen Thread im offenen Forenbereich?

    Der Vorstellungsthread eignet sich nicht für einen Beitrag von mir an Dich, da Du ja bereits frei geschaltet bist...und der hier noch weniger.

    Liebe Grüße an Dich

    Sunshine

  • Hallo Lutz, du hast ein sehr bewegenden Thread eröffnet und ganz wunderbar an Menschen erinnert. Es entstanden Bilder bei deinen Worten.

    Liebe Linde du schreibst so sehr berührend über Eure Freundschaft.

    Martin kannte ich nicht persönlich und hier leider zu kurz. Trotzdem half er mir hier Vor 3 Jahren mit entscheidend & grandios mit seinen Worten, als ich völlig überfordert und bewegungslos war. Immer wieder sprach ich mir seine Sätze nach, wenn es scheinbar nicht weiter ging. Ich verinnerlichte den Inhalt seiner Worte. So kam ich wieder ins Lot in meinem Leben.

    Manfreds Geschichte hat mir sehr geholfen, die Krankheit zu verstehen. Beide bleiben für mich präsent.

    Einen lieben Gruß, la vie

  • Hallo Lutz, auch für mich ein sehr bewegender Thread und Moment. Erst hier habe ich gelesen, dass Martin gegangen ist.

    Linde66 Danke für deine Worte und Erinnerungen.

    Martin hat mich von 2008 bis 2017 im Forum virtuel begleitet und mit vielen Smiliys Hoffnung und Humor verbreitet.

    Einfach nur Danke, dass ich von dir etwas mitnehmen durfte.

    lieben Gruß Caro

    Wir sind, was wir denken.

    trocken seit 01.05.2008

  • Hallo, es sind H., H., G., S. , W.Und so viele mehr. Der Älteste war 65 Jahre. Ich trauere bewusst um Sie, kann und will das aber im Moment nicht vertiefen, da es mir nicht gut geht. Angela

  • Dieses Thema ist sehr bewegend. Ich hatte schon länger vor, hier zu schreiben, aber mich noch nicht getraut. Heute traue ich mich.
    Die Überschrift habe ich geklaut. Aus dem Requiem von Paul Hindemith.

    Denen, die wir lieben


    Der Erste war T., der Lebensgefährte meiner besten Freundin. Groß gewachsen, schlaksig, schüchtern. Und meist unglaublich nett, wenn er nicht gerade seine „Tage“ hatte, an denen ich nicht verstand, warum er so komisch war. Geahnt habe ich es, denn ich habe ja schließlich selber gesoffen, war also ein Profi was den Konsum von Alkohol betraf. ... T. sagte oft nichts, auch wenn man sich mal zufällig im Treppenhaus begegnete. Es kam mir vor, als würde er die Luft anhalten. Einmal sagte ich ihm „Du kannst ruhig atmen, ich tu´dir nix.“ und dann atmete er durch. Eine Welle von Schapsduft nebelte mich ein und die Verbindung mit seinem Rasierwasser war besonders schräg. Eines Tage starb T. „plötzlich und unerwartet“, wie man so sagt, auf der Toilette seiner Wohnung. Im Krankenhaus nahm uns der Arzt beiseite und fragte „Was um Himmels Willen ist mit ihrem Freund gewesen? Seine Organe hatten den Zustand eines 80ig-Jährigen. „Zwei Flaschen Vodka waren mit ihm los. Jeden Tag.“ sagte seine Freundin. … T. Wurde 35 Jahre jung.

    Der Zweite war M., ein etwas nerviger Kollege, nett eigentlich, der leider nie die Grenze erkannte, wenn man mal für sich sein wollte. So wurde er manchmal in der Kneipe an den Tisch gelassen, manchmal nicht. Eines Tages kam M. nicht mehr und der Wirt sagte: „M. ist im Krankenhaus. Krebs. Nicht heilbar.“ … Zweimal habe ich ihn besucht. Es ging ihm schnell schlechter. „Der Alkohol hat seinen Darm aufgelöst.“ hiess es. Was natürlich Unsinn ist. Aber eben auch nicht ganz. Der Alkohol hatte auch bei M. Spuren hinterlassen, innen drin. In der Seele und noch viel stärker in seinem Körper. Wir brachten ihm Zeitungen und Illustrierte. Was liest man, wenn man bald stirbt? Es geht eigentlich nur um Abschied nehmen und darum, Zeit totzuschlagen, bis man tot ist. Es war schlimm. Als er tot war, erreichte uns ein Brief in der Kneipe, in dem er Abschied nahm: „Ich wäre gerne noch ein wenig bei Euch geblieben.“ und ich schämte mich zutiefst, weil ich ihn nicht einfach immer an meinen Tisch in der Kneipe gelassen hatte. … Die Beerdigung übernahm das Sozialamt. Wir waren fünf Anwesende. Vielleicht die größte Ansammlung in seinem „Leben“, und er hat es hoffentlich fühlen können.

    Die Dritte war P., eine wundervolle Frau aus Südeuropa, mit Temperament und voller, lauter Stimme. Wo sie her kam, gab es keine Arbeit, die auch nur halbwegs anständig bezahlt wurde. So kam sie als Fremde nach Berlin und landete mit einem fürchterlichen Deutsch in einer Kneipe. Keine schlechte Kneipe, das muss ich auch heute noch sagen. Keine Kaschemme, eher gut durchmischt mit Menschen aller Schichten. P. war eine unglaubliche Frau hinter dem Tresen. Lachend, laut, witzig. Niemanden schloß sie aus und sie selber wurde auch nie ausgeschlossen. Ihr Deutsch blieb rudimentär, aber man verstand alles, und was man nicht verstand, war auch nicht so wichtig. Sie kam mir vor wie das pure Leben. Eine beliebte Bezeichnung. Bei ihr passte das.
    „Irgendwann gehe ich zurück. Wo es warm ist!“ und das glaubte ich ihr sofort. Die Deutschen waren ihr manchmal zu stur und ich verstand ihren Wunsch gut. P. starb, wie M. ... Im gleichen Krankenhaus, ähnliche Diagnose und in atemberaubendem Tempo. Danach konnte sie zurück in ihre Heimat. Wo es warm war.

    Der Vierte war MM. Ein Künstler. Ein Gourmet. Ein Zauberer hinter dem Tresen. Groß, empathisch, schwul wie ich. Ein wenig Glamour im tristen Kreuzberg der 80er Jahre. „Peter – Framboise?“ .. Bei ihm gab es keinen ordinären Schnaps. Alles hatte seinen Namen und nichts war gewöhnlich. Das machte ihn aus, er machte aus allem etwas Besonderes und man durfte sich einen Augenblick im Leben als etwas besonderes fühlen. Manchmal sah ich ihm seine tiefe Traurigkeit an. Nie hat er mir erzählt, warum. Das Verhältnis Wirt – Gast hat er professionell gehalten und wenig von sich preisgegeben. Man konnte seine Sorgen loswerden, er hörte zu und nickte. „Framboise, Peter“? … Nur bei seiner Alkoholsucht konnte er nicht mehr professionell sein. Ich sah ihn immer wieder, wie er sich in einem unbeobachteten Moment glaubte und einen Schnaps runterkippte. Damals hätte ich ihm gern geholfen. Aber wie soll ein Alkoholiker einem Alkoholiker helfen, wenn beide in Alkohol ertrinken. Er wurde dünner und dünner. Auch er: Krebs. Speiseröhre. Zuviel Schnaps. Zuviel Qualm. Er starb und ich fühlte mich plötzlich sehr allein in der Kneipe.

    Der Fünfte war C., ein Freund. Ein Feingeist, ein Literat. Ein Mensch mit Uhrwerkqualitäten. Oder mit extrem eingeschränktem Leben, wie man das sehen will. Alles ging nach Plan. Seine Spaziergänge, seine Einkäufe. Immer alles zur gleichen Uhrzeit. Anrufen sollte man ihn besser nie. Er hasste es, wenn sein „Tagesablauf“ durcheinander kam. Sprechen konnte man mit ihm nachts, wenn er pünktlich um halb eins in der Kneipe auftauchte wie gerade frisch geduscht. Es war wie ein Ritual: wir unterhielten uns über Politik, Literatur und lästerten über die anderen Gäste. Einmal lieh er mir viel Geld. Ich wollte mein Leben ändern und eine Qualifizierungsmaßnahme machen, nur das JobCenter wollte nicht. Da gab er mir das Geld und sagte „Mach!“ und ich tat es. Später habe ich das Geld in Raten zurückgezahlt. Als ich trocken wurde, war er einer der ganz wenigen, die das nicht verstehen konnten oder wollten. Ich wusste, daß er vor seinen Kneipenbesuchen und danach trank. Bis er nicht mehr in die Kneipe kam. Schlaganfall in der Wohnung. Niemand weiss, wie lange er dort lag. Die Polizei schätzte 14 Tage. Die Beerdigung war erschütternd.

    Ich habe alle überlebt und gerade noch rechtzeitig den Absprung geschafft. Niemand wurde auch nur annähernd so alt wie ich heute bin. Alle starben durch Alkohol. Ich habe sie alle lieb und werde sie nicht vergessen. Ihnen widme ich heute meine Gedanken, an Heiligabend in diesem fürchterlichen Jahr 2021.

    Danke fürs Lesen.
    Peter

  • Lieber Peter,

    ich danke Dir, für diese Geschichten. Sie führen einem noch einmal ganz deutlich vor Augen, was alles passieren kann. Es tut mir leid, dass diese Menschen gehen mussten. Dennoch freue ich mich umso mehr, dass Du den Absprung geschafft hast.

    LG Cadda

  • Hey zusammen,

    Ich würde auch gerne von jemandem erzählen. Nennen wir ihn Michel. Ich lernte ihn auf Langzeittherapie kennen und dachte immer, du siehst gar nicht aus wie ein Alkoholkranker. Du warst schon ein Weile länger dort, ich schaute zu dir auf und dachte wow so will ich auch werden. Du warst so geklärt und reflektiert, niemals hätte ich gedacht, das du rückfällig wirst. Du brachtest mir Backgammon bei und wir spielten teilweise stundenlang. An deinem letzten Abend hörten wir bei 2-2 auf und versprachen uns, das entscheidende Spiel draußen in unserem neuen Leben ohne Alkohol auszutragen. Ich bekam dein Zimmer als du gingst und du hast mir einen Zettel im Schrank hinterlassen den ich heute noch habe. Ich besuchte dich auf Adaption, du hattest alles so fest im Griff. Bald darauf hattest du einen neuen Job und eine eigene Wohnung. Der Kontakt wurde weniger und ich dachte okay dein Job wird dich einspannen. Irgendwann war Funkstille und dann kam dieser eine Tag, der mir völlig den Boden unter den Füßen wegriss. Deine von dir getrennte Frau schrieb mir du seist tot....Sie erklärte mir warum der Kontakt weniger wurde. Du warst rückfällig, hast alles was du dir hart neu aufgebaut hattest für den Alkohol in die Tonne getreten. Hast deine Arbeit in den Sand gesetzt und deine Kinder hängen lassen. Du fiehlst im Vollrausch die Treppe runter und brachst dir das Genick. Auch ich wurde darauf hin rückfällig, ich kam mit der Situation irgendwie nicht klar und schnell hatten die alten Verhaltensmuster die Oberhand. Eine Weile ließ ich mich gehen, aber ich wollte nicht enden wie du. Meine Arbeit hatte ich schon wieder erfolgreich versoffen... Ich packte meine Tasche setzte mich in den Zug und fuhr weit weg mit dem Ziel alles hinter mir zu lassen und neu anzufangen. Heute habe ich mein Leben wieder im Griff bin glücklich verheiratet und habe wundervolle Kinder. Du warst immer ein Vorbild für mich aber leider hast du den Kampf verloren. Irgendwann sehen wir uns wieder und spielen Backgammon aber solange Versuche ich es besser zu machen und nicht so zu Enden wie du. Ich denke oft an dich und vermisse dich.

  • Ich habe leider auch schon Menschen gehen sehen, welche Alkoholiker waren. Wir hatten damals ne Kneipe, heute ein Restaurant unter anderem. Viele kennen/kannten ihr Limit nicht, was den Konsum angeht.

    Das macht mich immer wieder traurig. Auch haben wir hier im Nachbardorf eine Integration für Alkoholiker. Also Langzeittrockene. Da war einer, der kam immer morgens, ich nenne ihn mal Peter ( so hiess er nicht ) und er hat es wohl nicht überlebt, trotz Trockenheit. Er sah aber auch schon etwas verlebt aus, war jedoch trocken.

    Er hatte hier immer die Coca-Cola fürn Euro bekommen, da er Stammgast war. Meistens kam er sehr früh morgens auf seinem Fahrrad.

    Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt. – Mahatma Gandhi

  • Ich lese das hier gerade mit Tränen in den Augen.

    Wenn ich die eine oder andere Lebensgeschichte/Lebensende lese kommt es mir vor als wäre es ein Film.

    Sehr traurig ;(

    Aber eine wirklich schöne Geste an die Weggefährten!

    Liebe Grüße Petra

  • Hallo und guten Tag, ich bin neu hier und lese mich durch die verschiedenen Treads. Diese Beträge haben mich tief berührt, erinnern sie mich an mein eigenes 28 Jahre zurück liegendes Alkoholiker-Dasein und noch mehr an das Alkoholiker-Leben meines Sohnes, der fast genau vor zwei Jahren am Alkohol gestorben ist. Leider konnte er, trotz vieler Versuche und Therapien, den Zug nicht stoppen. Es ist unendlich schade, wertvolle Menschen an die Sucht zu verlieren. - Persona -

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