rory mcivy - 11 Monate trocken

  • Hallo,

    ich bin jetzt elf Monate trocken und es war die beste Entscheidung meines Lebens. Der Alkohol hat schon früh eine Rolle gespielt. Meinen ersten Rausch hatte ich mit 14 und von da an fraß sich die Sucht immer weiter in mein Leben und breitete sich bis ins letzte Hinterstübchen aus. Bis zum letzten Jahr habe ich, wenn nicht täglich, aber doch sehr regelmäßig getrunken und es hat zuletzt zwei Flaschen Wein gebraucht, um den Punkt zu erreichen, an dem endlich alles zur Unkenntlichkeit verschwimmt und ins Vergessen gerät. Ich wollte nur noch vergessen und mich von mir selbst und der Welt in Scham und Schuld abschneiden.
    Heute fühle ich mich stabil. Ich habe im vergangenen Jahr meine Ernährung umgestellt und 20kg verloren. Ich habe unter finanziellen Einbußen einen neuen Job angefangen, der aber sinnstiftend ist. Ich gehe endlich wieder offen und mutig auf meine Umwelt zu, statt fatalistisch, gereizt, zynisch und voller Vorwürfe. Ich bin endlich wieder begeisterungsfähig und habe sogar Momente echter Ruhe und Zufriedenheit. Es war ein harter Ritt, aber ich bleibe zuversichtlich.
    Nichtsdestoweniger ist mir klar, dass ein Rückfall immer möglich ist. Gerade vor meinem ersten Jubiläum in einem Monat suche ich einen Ort, an dem ich mich immer wieder mit meiner Krankheit auseinandersetzen kann. Ich will mich immer wieder daran erinnern, dass es nie wieder dazu kommt, dass ich auch nur einen Schluck Alkohol trinke. Denn ich weiß, dass dieser Schluck mit großer Wahrscheinlichkeit zur Folge haben wird, dass ich binnen weniger Wochen wieder ganz unten bin. Heute weiß ich endlich, dass alle andere Probleme, auch wenn es keine Lösung für sie gibt, nur Scheinriesen sind, solange ich trinke. Es beginnt und endet mit dem Alkohol. Erst mit der Einsicht, dass ein trockenes Leben kein Verzicht, sondern die Rückgewinnung des Lebens selbst ist, konnte meine Heilung beginnen. Daran möchte ich weiter arbeiten.
    Danke fürs Lesen.

  • Hallo rory,

    Herzliche willkommen in unserer Onlineselbsthilfegruppe und gleichzeitig auch Glückwunsch zu 11 Monaten ohne Alkohol. Es ist wichtig, immer am Thema zu bleiben, hier hast du eine Gruppe, die du 24/7 nutzen kannst.

    Ich lasse dir für den weiteren Austausch gleich mal den Bewerbungslink für den offenen Bereich da. Dort beginnt dann der richtige Austausch.

    https://alkoholiker-forum.de/bewerben/

    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Hallo rory,

    du bist jetzt für den offenen Bereich freigeschaltet und kannst überall schreiben und dich austauschen. Ich wünsche dir einen guten Austausch.

    Bitte schreibe aber in den ersten 4 Wochen nicht im Vorstellungsbereich.


    lg Morgenrot

    Wer nicht hofft, wird nie dem Unverhofften begegnen. ( Julio Cortazar )

  • Als ich vor elf Monaten aufgehört habe Alkohol zu trinken, habe ich viele unterschiedliche Instrumente genutzt, um endlich trocken zu werden. Es war nicht mein erster Versuch. Da ich hier keinen Roman schreiben möchte, beschränke ich mich heute auf eine kleinere Anekdote, an die ich diese Woche oft denken musste. Ich habe aktuell das Bedürfnis, mich mitzuteilen. Vermutlich, weil das erste Jahr Abstinenz ins Haus steht. Ich weiß gar nicht recht wie ich mich dabei fühle. Ein Jahr klingt lang aber im Vergleich zu den vielen betrunkenen Jahren davor und wie lange es wirklich dauert, nach und nach zu heilen, ist ein Jahr gar nicht mal so lang.
    Ich war inzwischen ca. acht Wochen trocken. Das war der längste Zeitraum, den ich bis dahin je abstinent war. Ich war mit dem Auto auf dem Heimweg. Nüchtern. Ich bin nie auch nur angetrunken gefahren, aber doch das ein oder andere mal mit ausschleichendem Kater. So viel Ehrlichkeit muss sein. Es war ein Donnerstag und der kommende Freitag war ein home office Tag. Das war bis dahin ein Anlass, schon auf dem Heimweg einen Schlauch Wein oder eine Flasche Wodka zu kaufen, um ins vorgezogene Wochenende zu starten.
    Plötzlich meldete sich der Suchtdruck auf eine ganz neue Art und Weise. Wie ein Alter Ego beglückwünschte er mich, wie stark ich doch sei und versuchte, mir einzureden, dass ich das Trinken nun unter Kontrolle habe. Es sei doch eine wunderbare Idee zur Feier der Abstinenz und weil das Wochenende näher rückt sich schon einmal mit ganz besonders edlen Tropfen einzudecken und zu belohnen. Man beachte die unverfrorene Frechheit und Widersinnigkeit dieser Gedankenkette. Ein ganz typische, verquere Logik meines alkoholkranken Gehirns. Zunächst drehte ich nur die Musik lauter und sang mit, aber die Stimme in meinem Kopf hörte nicht auf, also fing ich an meinem alter Ego, zunächst höflich mitzuteilen, dass ich seine Absichten durchschaue und nicht darauf eingehen würde. Es hörte aber nicht auf, bis ich die Geduld verlor und anfing, aggressiv zu werden.
    Das Thema der Ungeduld, Impulskontrolle und generellen Gereiztheit durch das Trinken hatte sich bis dahin massiv ausgebaut. Ich bin im Grunde ein höflicher Mensch, aber der Alkohol hatte mich über die Jahre zu einem Zyniker und Choleriker gemacht. Selbst in Augenblicken, in denen ich reflektierte und mir rational klar war, dass die Pferde gerade mit mir durchgingen, war es beinahe unmöglich die Emotionen runter zu kochen.
    Im Auto bei aufgedrehter Musik fing ich mich dann nicht mehr ein. Ich ließ all meine Wut auf mein alter Ego los und machte ihm/mir deutlich wie viel Leben, Freude und Gesundheit das Trinken mich inzwischen gekostet hatte. Ich war sauer wie nie und schrie und brüllte. Ich stellte mir ganz bildlich mich selbst als meinen eigenen Widersacher vor und deckte dieses Bild mit nicht zitierfähigen, unflätigen Ausdrücken der übelsten Art ein. Ich wusste mir nicht andres zu helfen, als noch eine große extra Schleife zu drehen und auf mich einzuschreien.
    Im Rückblick war das eine der haarscharfen Situationen, in denen meine Abstinenz an einem seidenen Faden hing. Das herausfordernde an meiner Sucht ist, dass erst mit fortschreitender Abstinenz ich in die Lage komme die Brenzligkeit meiner Situation überhaupt richtig zu erkennen. Ich muss mir immer wieder klar machen, dass da kein Gras drüber wächst und es irgendwann gut ist. Es gibt keine noch so absurde Gedankenkonstruktion, die meine Krankheit wegdiskutiert. Ich finde es schwer, mich immer wieder zur Räson zu rufen und klar zu machen, dass das für immer bleibt. Ich will doch schließlich mit einem positiven Selbstbild durchs Leben gehen und nun ist da dieses Damoklesschwert. Ich versuche es, in ein Schild zu verwandeln und es mit Stolz zu tragen. Aber ich kenne mich selbst auch gut. Manchmal bin ich so leichtfüßig unterwegs und überschätze mich oder unterschätze die Gefahren. Schätze, das musste mal raus.
    Danke fürs Lesen.

  • Willkommen bei uns in der Selbsthilfegruppe, rory mciviy,

    gut, dass Du zu uns gefunden hast. 11 Monate abstinent bist Du jetzt, meinen Glückwunsch zu Deiner Entscheidung!

    Der Alkohol ist ein Nervengift und verändert die Seele und schädigt den Körper. Und Du hast es richtig erkannt, Dein Körper und Deine Seele sind am Heilen.

    Erst mit der Einsicht, dass ein trockenes Leben kein Verzicht, sondern die Rückgewinnung des Lebens selbst ist, konnte meine Heilung beginnen

    Alles dauert seine Zeit und die innere Suchtstimme wird im Laufe der Zeit leiser und weniger.

    Wie bist Du die letzten 11 Monate durch die Zeit gekommen? Hast Du bei uns mitgelesen, eine Therapie gemacht oder Selbsthilfegruppen besucht?

    LG Elly

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    Mancher wird erst mutig, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sieht.

    - Trocken seit 06.01.2013 -

  • Hallo Elly,

    danke für die Begrüßung und deinen Beitrag. Ich hatte, wie angedeutet, schon länger ein wachsendes Bewusstsein von meiner Alkoholabhängigkeit. Ich war zwar schon ein paar Jahre in Therapie wegen Depressionen, habe aber das Thema stets umschifft oder herunter gespielt. Das Problem ist, dass ich durchaus überzeugend sein kann. Hinzu kommt, dass ich als Alkoholiker gelernt habe verdammt gut zu lügen. Also hatte mein Therapeut kaum eine Chance, das zu erkennen. Zudem war ich erfolgreich im Job, Beziehung & Familie liefen auch, ein sog. „funktionierender Alkoholiker“. Ein Begriff, den ich äußerst problematisch finde, weil ich eben als solcher von Außen keinen oder kaum Anlass bot, die Tiefe der Krankheit zu erkennen. Funktionieren tut ab einem Punkt nämlich sehr vieles nur noch mit irrsinniger Trinkplanung. „Funktionierende Alkoholiker“ sind imho Alkoholiker, die ihr Leiden in die Länge ziehen und dadurch die Sucht und die Misere noch vertiefen und verlängern. Aber ich will nicht über andere urteilen und die Grenzen sind fließend. Heute denke ich nur, es hätte mir vielleicht geholfen, wenn ich auffällig geworden wäre. Aber gut, das liegt auch daran, dass in unserer Gesellschaft selbst problematisches Trinkverhalten z.T. normalisiert wird. Mir ist wichtig, diesen Absatz voranzustellen, weil ich nicht möchte, dass es so aussieht, als wäre mit einem Schlag alles wunderbar. Ich habe viele Jahre und ein paar Versuche hinter mir. Aber diese blieben erfolglos. Vor allem wegen meiner Uneinsichtigkeit, Angst, Scham etc.

    Am Ende waren es mehrere Faktoren, die mich eines bestimmten Morgens vor elf Monaten haben aufwachen lassen (das würde zu viel Raum einnehmen). Das wichtigste: Ich beschloss, mit meinem Therapeuten offen zu sein. Das war absolut essenziell. Zudem schaffte ich mir ein Tagebuch an, in dem ich jeden Tag nur die Erfolge notierte. Jeden einzelnen Tag. Zu Anfang sogar mehrmals täglich, wenn es schlimm wurde. Und es gab genug schlimme Momente und Tage. Von einem Tag zum nächsten. Kleine Ziele. Schritt für Schritt. Daraus entwickelte sich wieder meine Lust an Kreativem, was mich beschäftigt, bereichert und zufrieden hält. Sport. Nicht übertrieben, aber jeden Tag eine Einheit. Ich habe mich zudem von Anfang an mit (Fach-)Literatur, Dokus, Podcasts etc. immer wieder, bis heute, ständig weiter gebildet, um meine Krankheit besser zu verstehen, und welche Fallstricke sie bereit hält: Es ist grausam, denn im Grunde hat die Sucht im Verlauf Verhaltensweisen etabliert, die meine Persönlichkeit nach und nach übernommen haben. Der Schriftsteller F.S. Fitzgerald, ebenfalls Alkoholiker, hat das einmal sehr treffend zusammengefasst: edit Es war ein langsamer und deshalb perfider Prozess.

    Zu den letzten elf Monaten kann ich sagen, dass der Anfang sehr hart war. Die ersten Tage mit Nachtschweiß. Die ersten zwei Wochen mit starken Schlafstörungen. Ich bin wie betäubt durch die Gegend gelaufen. Die ersten zwei, drei Monate gefüllt mit einer sehr traurigen Leere. Ich habe kaum etwas gespürt oder wahrgenommen. Kaum das rettende Ufer gesehen. Danach wurde es besser und ab Monat vier, fünf ging es dann richtig bergauf. Ich kam wieder zu mir und war in der Lage die Welt um mich wieder durch meine eigenen Augen zu sehen, und nicht daran zu denken, wie ich das Trinken organisiere. Alkohol ist ein Alpraum.

    Deshalb bin ich nun auch hier. Ich will und muss dran bleiben. Ich habe gerade konkret etwas Angst vor meinem ersten Jubiläum, und dass sich der Suchtcharakter einschleicht und mir wieder weismachen will, dass wenn ich ein Jahr geschafft habe, alles locker sei. Nichts ist locker. Und ich habe es auch nicht „geschafft“, denn das würde implizieren, dass ich mir ein Jahr Abstinenz vorgenommen habe. Nein, ich will nie wieder Alkohol trinken. Nie wieder. Mir geht es gut und ich bin stabil, aber nur, weil ich ernsthaft damit arbeite. Weil ich den Horror kenne. Sonst würde ich an einem Sonntagabend wie heute mit Entzug auf der Couch oder im Bett liegen und Panik vor dem Montag, der Woche und dem Leben schieben.

    Wenig überraschend sei noch als Zusatz beigetragen, haben sich meine Depressionen im letzten Jahr sehr, sehr deutlich gebessert. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass Alkohol bei mir der erste Verursacher war und die Depressionen auf sein Konto gehen.

    Es ist etwas lang geworden, aber ich denke, man merkt, woran das liegt.
    Danke fürs Lesen.

    Einmal editiert, zuletzt von Linde66 (4. Februar 2024 um 21:24) aus folgendem Grund: Bitte hier im Forum keine Zitate von Schriftstellern u. a. wg. Urheberrecht, danke.

  • Willkommen in unserer SHG

    Du bist auf dem richtigen Weg,und hier im Forum kannst du ihn weitergehen.

    Mir hilft der Austausch und die Gemeinschaft hier sehr gut.

    Hier gibts Berge von Erfahrungen.Als ich hier aufschlug konnte ich es garnicht fassen,das es so viel Trockene auf einem Haufen gibt.:lol:

    LG Bolle

    Der Weg ist das Ziel(Konfuzius)

  • Drei Geburtstage im Jahr

    Hallo zusammen, bald ist wieder Stichtag und es sind nun fast 13 Monate, in denen ich nicht mehr getrunken habe. Ursprünglich hatte ich mir das Ziel gesetzt ein Jahr ohne Alkohol zu leben, wobei ich wusste, dass ich gar nie wieder trinken kann und will. Ich habe begleitend auch andere kleine Veränderungen in meinem Alltag vorgenommen, aber das wichtigste und erste Ziel war es, von meiner Krankheit heilen zu können. Zu dem Zeitpunkt brauchte ich ein realistisches und klares Ziel, auf das ich hinarbeiten konnte.
    Wie angedeutet, hatte ich bis dahin einige Versuche unternommen mein Trinkverhalten zu kontrollieren, die meist erfolglos blieben oder genauer: hatte ich mir vorgenommen sechs Wochen nüchtern zu bleiben, erzählte mir mein krankes Gehirn schon nach zwei, drei oder vier Wochen wie unglaublich stolz ich auf mich sein kann, dass ich es im Griff habe und ohne weiteres mich heute Abend mit einer guten Flasche Wein belohnen kann. Ich hatte den Punkt überschritten, ich wusste es und machte dennoch weiter.

    Wir alle haben an einem bestimmten Tag im Jahr Geburtstag. Und auf die eine oder andere Weise feiern wir diesen Tag oder denken zumindest daran und lassen unsere Zeit Revue passieren. Seit meiner frühen Jugend habe ich einen zweiten Geburtstag, weil ich dem Schnitter von der Klinge gesprungen bin. Weniger dramatisch kann ich es nicht ausdrücken. Nun, seit dem sechsten März 2023 habe ich einen dritten Geburtstag. Während man ungefragt geboren und in die Welt geworfen wird, mein zweiter Geburtstag maßgeblich in den Händen von Ärzten und meiner Familie lag, habe ich am 6.3.2023 meine dritte Geburt selbst initiiert.
    Das mag schwülstig und pathetisch klingen, aber vermutlich weil dieses Ereignis noch nicht so lange zu rück liegt und ich immer noch auf dem Weg der Heilung bin, ist dieser mein dritter Geburtstag derjenige, an dem ich sehr tiefe und eine andere Dankbarkeit empfinde. Ich bin dankbar, dass das Chaos mich als Mensch in dieser Welt hervorgebracht hat. Ich bin dankbar, dass die Ärzte mein junges Leben retten konnten. Aber die Dankbarkeit nüchtern zu sein, fühlt sich so viel mächtiger an, weil es meine Entscheidung war, ist und bleibt, was ich aus den ersten beiden Geschenken mache.
    Das Konzept und die Empfindung der Dankbarkeit ist mir auch erst im letzten Jahr überhaupt erst so deutlich geworden. Während ich als Alkoholiker der späten Phase meist zynisch, nihilistisch und feindselig mir und meiner Umwelt gegenüber war, ist an deren Stelle Dankbarkeit und Gelassenheit getreten. Auf die Gefahr hin, dass sich das nach New Age Trash anhört, ich kann es nicht wirklich anders beschreiben. Vielleicht so: Schwebte ich als Trinker stets angewidert mit einer arroganten Distanz zu den Dingen über die Oberfläche, bin ich heute endlich wieder bei mir und habe das Gefühl richtig in der Welt zu sein. Akzeptanz. Ich toleriere mich nicht mehr, ich akzeptiere mich in meinem So- und Dasein.
    In meinen späten Teenagerjahren bin ich oft mit einem unglaublich starken Gefühl aufgewacht. Ein Gefühl des blinden Wollens, einer Lust, einem Verlangen. Es war ein sehr mächtiges und tolles Gefühl. Aber ich wusste nicht damit umzugehen. Ich habe diese Kraft nicht übersetzen können in Aktivitäten, Hobbys oder etwas Schöpferisches. Der Alkohol hat geholfen, es zu betäuben. Das war mitunter mein Weg, damit umzugehen. Heute so viele, viele Jahre später verstehe ich; das war mein Ruf zum Leben. Und ich habe einige Gelegenheiten durch den Alkohol verstreichen lassen, nicht gesehen oder schlichtweg abgetan. Heute bin ich dankbar für diese Erkenntnis, denn die Zeit kommt nicht zurück. Ich kompensiere auch nicht mit irrealen Zukunftsphantasien. Ich bin dankbar für meine neu gewonnene Klarheit und für das Bewusstsein, dass die kleinen steten Veränderungen die mächtigsten sind.

    Einmal editiert, zuletzt von rory mcivy (24. März 2024 um 09:30)

  • Danke für eure lieben Beiträge. In meinem vorherigen Beitrag habe ich die positiven Seiten meiner Abstinenz von fortschreitender Erkenntnis und Dankbarkeit dargestellt. Aber tatsächlich hatte ich gestern seit langer Zeit wieder das Verlangen zwar nicht zu trinken, nicht konkret nach alkoholischen Getränken aber betrunken oder wie auch immer high zu sein.
    Der Gedanke daran tatsächlich Alkohol zu trinken ist bei mir mit einem kleinen Angst-Schock und Ekel verbunden. Sofort kommen die einprägsamen, beschämenden und schmerzlichen Erinnerungen aus den betrunkenen Jahren hoch. Ich hoffe, dass das immer so bleibt, weil das vermutlich ziemlich gut dabei hilft, erst gar nicht die hinterlistige Gedankenkette zu aktivieren, an deren Ende das bekannte Resultat steht: ein fetter Kater, Scham, Schuld, Minderwertigkeitsgefühle, Aussichtslosigkeit etc etc. Wenn nicht beim ersten, dann sicher beim dritten oder spätestens fünften Kater.
    Tatsächlich habe ich mir ausgemalt, wie es wäre einen Rückfall zu haben und denke, dass die Sucht mir einreden wollen würde: Hey, siehst du? Gar nicht wild. Ein bisschen einen flauen Magen und Müdigkeit. Das war’s. Aber ich weiß unverrückbar, dass das nur der Anfang von dem sein würde, was so hart war zu verlernen. Was mein Leben zu einem schlechten Horrorfilm gemacht hat.
    Die kleine Sehnsucht, für einige Stunden entrückt zu sein, in den Nebel zu gehen, war gestern immer wieder mal da. Ich hatte das heute morgen ernsthaft total vergessen. Und warum war es gestern so? Gar nicht mal, weil es mir besonders gut oder schlecht ging. Es war vermutlich eine Suchterinnerung. Denn früher habe ich auch keinen Anlass zum Trinken gebraucht. Trinken war fester Bestandteil meines Lebens. Er war Teil meiner Strategie, Gewohnheit und allem voran Sucht.
    Ich habe heute wieder im Forum gelesen und es ist für mich so krass erschreckend zu lesen wie Menschen nach Jahren der Abstinenz wieder rückfällig werden. Mir ist natürlich klar, dass je länger die Abstinenz hält, das Risiko auch kleiner wird. Aber trotzdem. Ein Schicksalsschlag, eine seltsame Situation, weiß der Geier was und schon geht die Raupe wieder rückwärts. So schlimm es ist und es gerade klingt, aber es hilft mir, und anderen auch sich anhand der anderen Erfahrungen stets zu vergegenwärtigen, wie fies und endlos diese Krankheit ist.

  • Ein Schicksalsschlag, eine seltsame Situation, weiß der Geier was und schon geht die Raupe wieder rückwärts. So schlimm es ist und es gerade klingt, aber es hilft mir, und anderen auch sich anhand der anderen Erfahrungen stets zu vergegenwärtigen, wie fies und endlos diese Krankheit ist.

    Das ist das tückische an unserer Krankheit. Sie kann nur gestoppt werden, niemals geheilt.
    Das war die erste Lektion auf dem Weg in mein nüchternes Leben.

    Viele Grüße

    Stern

    ⭐️

    Wenn du heute aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es morgen geschafft hättest.

  • Glückwunsch zu Deinem ersten Jahr, das bekanntlich das schwerste ist.


    Meine Sichtweise zu den Rückfällen von zuvor mehrjährig Abstinenten ist da etwas differenzierter: Die Rückfälligen, die ich bislang persönlich traf, sind nicht durch einen Schicksalsschlag (Krankheit, Todesfall, Arbeitslosigkeit) wieder an die Flasche gekommen, sondern aus anderen Gründen. Sie haben schlichtweg ihre Trockenarbeit vernachlässigt, ich nenne es Training. Sie haben sich einfach nicht mehr mit ihrer Krankheit befasst, diese rückte mehr und mehr in den Hintergrund und parallel dazu nistete sich langsam der Gedanke ein, jetzt könnten sie ja mal wie ein Normaler etwas trinken. Das glänzend funktionierende, geradezu heimtückische Suchtgedächtnis fraß sich in der Phase der Vernachlässigung wieder in die persönliche Denke (neudeutsch mindset) hinein. Von da aus, war es dann nicht mehr weit bis zum Rückfall.


    Wohl gemerkt: Ich halte es für absolut möglich, dass losgelöst von meinen, sicherlich nicht repräsentativen Beobachtungen, auch individuelle Schicksalsschläge zu einem Rückfall führen können. Jedoch bin ich überzeugt, dass bei konseqentem Training (Trockenarbeit) und der Offenbarung des Schicksalsschlags gegenüber Vertraunspersonen, das Rückfallrisiko gemindert ist. Reden über den "Schlag" hilft (oder hier schreiben).

  • Ja, das leuchtet mir absolut ein. Danke für deine Ausführung. Umso wichtiger mich regelmäßig daran zu erinnern. Der Tag heute im Forum war eine intensive Trockenübung. Denn ich neige schon dazu, die Dinge leicht zu nehmen, was auch echt schön ist. Aber in puncto Alkoholismus gibt es imho kein Vertun.
    Deshalb verstehe ich auch nicht richtig, wenn Alkoholiker sich als Ex-Alkoholiker bezeichnen. Ich verstehe, dass man nicht mit einem Stigma leben möchte. Ich verstehe, dass man ein bestimmtes Selbstbild anstrebt etc. Bitte nicht falsch verstehen, ich habe das nicht zu beurteilen und möchte mich auch nicht erheben. Für mich deckt sich das nur nicht mit dem, was ich über diese Krankheit gelernt habe. Ich bin Alkoholiker und das werde ich immer bleiben. Jede Relativierung ist für mich schon ein Schritt in Richtung Kneipe. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass nur ich selbst für mich verantwortlich bin.

  • Hallo rory

    Relativieren mach ich nur für mich,wenn ich es überhaupt irgendwo sage:Ich bin trockener Alkoholiker.

    Je länger du trocken bist,desto besser fühlt es sich an.

    Und ein Jahr ist doch eine Leistung,auf die du stolz sein kannst.Gratulation.

    LG Bolle

    Der Weg ist das Ziel(Konfuzius)

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